Der Predigttext für den aktuellen Sonntag stammt aus dem Johannesevangelium und strotzt vor antijudaistischen Aussagen (siehe S. 3). Wie kann man mit solchen Texten heute umgehen? Sollten sie im Gottesdienst überhaupt noch vorkommen? Klaus Wengst, emeritierter Professor für Neues Testament an der Ruhr-Universität Bochum und Verfasser eines Johannes-Kommentars, erläutert im Gespräch mit Anke von Legat seinen Zugang zu problematischen Texten und die Möglichkeit, jüdische Traditionen für das Verständnis mit einzubeziehen.
Der Predigttext für den 1. Sonntag nach Trinitatis beschreibt eine Rede Jesu, in der er „den Juden“ vorwirft, nicht an Gott zu glauben. Sein Argument: Nur wer an ihn – Jesus – als Messias glaubt, der glaubt auch an Gott. Wir sehen das heute anders und betonen die bleibende Erwählung Israels. Wie kann man so einen Text heute noch predigen?
Zunächst einmal müssen wir uns klarmachen, dass dieser Text – wie alle Bibeltexte – nicht vom Himmel gefallen ist. Er wurde vom Evangelisten Johannes für eine Gemeinde in bestimmter Situation geschrieben. Und diese Situation unterscheidet sich grundlegend von unserer – und übrigens auch von der, in der Jesus gelebt hat.
Wie sah denn die Gemeinde aus, für die Johannes schrieb?
Wir können das nur in Annäherung aus Hinweisen im Evangelium erschließen. Danach lebte diese mehrheitlich jüdische Gemeinde in der Zeit nach 70 n. Chr. in einem mehrheitlich jüdischen Kontext. Nach der Katastrophe des jüdisch-römischen Krieges suchten und fanden pharisäische Lehrer Wege, wie jüdisches Leben weitergehen konnte. Die Minderheit, die an Jesus als Messias glaubte, ließ sich jedoch nicht integrieren, weil sie für ihren Glauben einen absoluten Anspruch erhob. Das führte auf Seiten der Mehrheit zu Maßnahmen sozialer Ausgrenzung und wirtschaftlicher Boykottierung. Und man argumentierte gegen deren Glauben: Wie kann jemand der Messias sein, der nicht da ist und der so offensichtlich mit seinem Tod an einem römischen Kreuz gescheitert ist? Außerdem verspürte man nichts von einer messianischen Veränderung der Welt. Das scheint Menschen in der Jesusgemeinde bewegt zu haben, sich zur Mehrheit zurückzuwenden.
Und wie wollte Johannes in dieser Situation helfen?
Er wollte seine verunsicherte Gemeinde stärken, dass sie mit Jesus nicht auf dem Holzweg ist. So erzählt er die Geschichte Jesu mit seiner jüdischen Bibel. Damit macht er deutlich, dass Gott mit Jesus ist, bis in den Tod am Kreuz hinein. In Jesu Handeln und Erleiden kommt der in der Bibel bezeugte Gott zu Wort und Wirkung – und das ja auch nach seinem Tod und seiner Auferstehung. Deshalb spricht Johannes von dem verheißenen Geist, der Jesus so in Erinnerung bringt, dass er je gegenwärtig wirkt. Daher verfasst er sein Evangelium nicht als historisches Protokoll. Es ist zugleich schon Auslegung des ihm Überlieferten, damit seine Gemeinde in ihrer Situation sich davon angesprochen und bewegt erfährt. Dabei projiziert er auch den Gegensatz zur jüdischen Mehrheit in die Darstellung der Zeit Jesu zurück.
Die Feindschaft zwischen Jesus und den Pharisäern und Schriftgelehrten gab es also gar nicht?
Nein, nicht zu Jesu Zeit. Die polemischen Diskussionen, die im Evangelium geschildert werden, stammen aus der Zeit des Johannes. Sie zeigen eine verfahrene Situation, in der man einander nicht mehr zuhört, sondern die je eigene Position auf Kosten der anderen Seite zu stärken sucht. Dabei spitzt Johannes an einigen Stellen derart zu, dass er den anderen abspricht, Gott zu kennen, wenn sie nicht an Jesus glauben. Das widerspricht seinen eigenen Voraussetzungen. Denn Gott, der in Jesus wirkt, ist für ihn selbstverständlich der in Israel bekannte Gott.
Wie kann man dann heute mit solchen Aussagen umgehen?
Wir müssen uns klar machen, dass wir in völlig anderer Situation leben. Wir sind keine jüdische Minderheit, die sich von der jüdischen Mehrheit bedrängt erfährt. Wir sind die Erben einer mächtig gewordenen Völkerkirche, unter der Jüdinnen und Juden Jahrhunderte lang gelitten haben. Wir dürfen nicht polemische Sätze nachsprechen, die aus einer innerjüdischen Auseinandersetzung stammen.
Wie kann und sollte man dann über solche Texte predigen?
Wir können sie nicht verschämt verschweigen. Wir müssen uns ihnen stellen. Es muss gesagt werden, warum wir solche polemischen Aussagen nicht nachsprechen. Aber die Texte enthalten nicht nur Polemik. Um nicht antijüdisch zu wirken, wäre es wichtig, bestehende Gemeinsamkeiten mit der jüdischen Tradition wahrzunehmen und positive Aussagen nicht auf einer vermeintlich negativen Folie des Judentums zu profilieren.
Und wie könnte das zum Beispiel für den Predigttext zum kommenden Sonntag aussehen?
Im Predigttext fragt Jesus: „Wie könnt ihr glauben, wenn ihr Ehre voneinander nehmt?“ Johannes dürfte dabei an bessergestellte Sympathisanten der Gemeinde denken. Die wagen kein offenes Bekenntnis, weil sie fürchten, dadurch von ihrem hohen sozialen Status herunterzukommen (12,42-43). Er stellt über das ganze Evangelium hin heraus, dass Gott seine Ehre im Kreuz Jesu gesucht hat, einem Ort größter Unehre. Dieser Weg Gottes nach ganz unten entspricht schon dem biblischen Zeugnis: „Hoch und heilig wohne ich – und bei den Geschlagenen und Gedemütigten, zu beleben den Geist der Niedrigen und zu beleben das Herz der Zerschlagenen“ (Jesaja 57,15). Und er entspricht auch der jüdisch-rabbinischen Tradition, nach der Gott sich in jedes der Exile seines Volkes mit exilieren ließ.
Wie kann man das der Gemeinde noch deutlicher verständlich machen?
Nach meiner Erfahrung hilft es gegen Antijudaismus, vor allem auch unbewussten, wenn man sich einmal die enge Verbindung der neutestamentlichen Texte mit der jüdischen Bibel bewusst macht. Sie liefert nicht vordergründige Belege oder „Beweise“, sondern bildet ihre Basis und ist der Raum, in dem sie sich bewegen. Und natürlich hilft es andererseits, wenn man die weitgehenden inhaltlichen Übereinstimmungen mit Texten der jüdisch-rabbinischen Tradition entdeckt.
Damit würde der jüdische Weg zu Gott akzeptiert. Das wäre für viele Christinnen und Christen heute noch ein ungewohnter Gedanke …
Ich habe bei vielen Diskussionen in Gemeinden eine gewisse Ängstlichkeit gespürt, als würde uns etwas genommen, wenn wir neutestamentliche Bekenntnisaussagen über Jesus nicht im Sinne der „Absolutheit des Christentums“ interpretieren. Meine Erfahrung zeigt das Gegenteil: Ich gewinne etwas, wenn ich mit Juden und Jüdinnen in ein wirkliches Gespräch komme, das das Gegenüber in seiner Identität nicht in Frage stellt, sondern gelten lässt. Ich gewinne Zeuginnen und Zeugen desselben Gottes, des Gottes Israels, zu dem ich mit meinen Vorfahren durch Jesus gekommen bin und in Beziehung gehalten werde.