Artikel teilen

Publizist Asfa-Wossen Asserate zur Lage in Äthiopien

Asfa-Wossen Asserate (74) ist in Sorge. Der Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie lebt in Frankfurt, ist Buchautor und Unternehmensberater. Mehr denn je treibt ihn die Frage um, wie Äthiopien aus dem Teufelskreis von Krisen und Gewalt entkommen kann. Eine Wurzel des Übels, so sagt er im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), sei die Verfassung, die sich das Land 1991 nach dem Sturz der Militärdiktatur gab.

KNA: Herr Asserate, was passiert gerade in Äthiopien?

Asserate: Wir erleben, wie die äthiopische Regierung eine ethnische Säuberung im Bundesstaat Amhara durchführt. Hunderttausende Amharen sind bereits vertrieben. Die Zahl derer, die man massakriert hat, hat die Tausendergrenze längst überschritten. Dazu sitzen mehr als 10.000 Amharen als politische Gefangene in Haft.

KNA: Ethnische Säuberung ist ein starkes Wort.

Asserate: Genau davon redet das Lemkin Institute, das soeben eine Genozid-Warnung veröffentlich hat. Außerdem hat das in Äthiopien System. Davor warne ich seit 30 Jahren. Denn die bestehende ethnozentrische Verfassung trägt wesentlich zu dieser Katastrophe bei.

KNA: Was steckt dahinter?

Asserate: Dahinter steckt eine Politisierung der Ethnien. Und das in Äthiopien, wo es über 90 verschiedene Ethnien und 84 verschiedene Sprachen gibt! Wie alle anderen afrikanischen Länder ist auch Äthiopien ein Vielvölkerstaat. Statt die Devise “Einheit in Verschiedenheit und Verschiedenheit in Einheit” rechtlich zu verankern, hat die Verfassung Gräben zwischen den einzelnen Gruppen geschaffen. Was das konkret bedeutet, haben wir in den vergangenen zwei Jahren bei den Kämpfen zwischen der Zentralregierung und bewaffneten Einheiten der Volksbefreiungsfront von Tigray TPLF gesehen. Jetzt ist offenbar das benachbarte Amhara an der Reihe.

KNA: Wer steht sich dort gegenüber?

Asserate: Regierungstruppen und die Fanno-Miliz. Sie kontrolliert inzwischen weite Teile der Region Amhara und genießt großen Rückhalt in der Bevölkerung. Man muss in diesem Fall schon von einem regelrechten Volksaufstand sprechen. Die Regierung hat darauf mit Luftangriffen geantwortet; auch Drohnen kamen zum Einsatz. Allein dadurch starben in den vergangenen Wochen Hunderte Menschen.

KNA: Woher kommen all diese Waffen?

Asserate: Die Fanno-Miliz nutzt erbeutete Ausrüstung vom äthiopischen Militär. Das wiederum wird unter anderem von der Türkei und von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützt. Beide Länder haben Interesse an den Bodenschätzen in Äthiopien.

KNA: Welche Rolle spielt bei alledem der äthiopische Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed?

Asserate: Als er im Frühjahr 2018 an die Macht kam, galt er als Prophet, als Retter des Landes. Er kündigte ein Ende der rassistischen Politik im Land an, versprach eine Verfassungsreform und wollte für Frieden mit dem Nachbarland Eritrea sorgen. Nichts davon hat er wirklich umgesetzt. Im Gegenteil, in vielen Regionen der Republik herrscht seitdem Unfrieden. Erst seit November 2022 hat der Krieg zwischen der Zentralregierung und Tigray ein Ende gefunden. Übrigens auch mithilfe der Amharen, die Abiy jetzt verfolgen lässt.

KNA: Warum, meinen Sie, tut er das?

Asserate: Um die Hegemonie der Oromo in Äthiopien zu etablieren, stellt er jetzt die Amharen als größte Gefahr für die Einheit des Staates dar – und das äthiopisch-orthodoxe Christentum. Dabei handelt es sich um die beiden wichtigsten Pfeiler, auf denen die 3.000-jährige Geschichte des äthiopischen Staates ruht.

KNA: Das äthiopische Kaiserhaus, das bis 1974 regierte und seine Ursprünge auf den biblischen König Salomo zurückführt, entstammt dem Volk der Amharen.

Asserate: Von den 225 Kaisern, die seit 3.000 Jahren über Äthiopien geherrscht haben, mögen zwar viele Amharen gewesen sein, aber alle waren von multi-ethnischer Herkunft. Die jetzige Regierung hat weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit in den vergangenen zwei Jahren zahlreiche Kirchen zerstört und einen regelrechten Kampf gegen äthiopisch-orthodoxe Christen begonnen. Das ging so weit, dass das Regime sogar die Zerschlagung der Heiligen Synode, des höchsten Entscheidungsgremiums der äthiopisch-orthodoxen Kirche, in Betracht zog, indem es abtrünnige Oromo-Bischöfe dabei unterstützte, eine eigene Synode zu gründen.

KNA: Fast 44 Prozent der rund 120 Millionen Äthiopier gehören der äthiopisch-orthodoxen Kirche an. Über das Bekenntnis von Abiy Ahmed kursieren unterschiedliche Angaben.

Asserate: Ach, das ist ein offenes Geheimnis! Er ist Pfingstler. Zwar trägt er einen muslimischen Namen, aber er verfolgt die amharischen Muslime genauso wie die äthiopisch-orthodoxen Christen.

KNA: Unlängst ist Äthiopien dem BRICS-Staatenbund um die sogenannten Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika beigetreten. Versucht Abiy Ahmed, sich auf diese Weise Rückendeckung für seine Politik zu holen?

Asserate: Damit wollte Abiy sein Unbehagen darüber ausdrücken, dass die Amerikaner während des Tigray-Konfliktes die TPLF unterstützt haben. Vor allem Russland und China haben sich während dieses Konfliktes auf die Seite Äthiopiens gestellt und damit die territoriale Integrität und nationale Souveränität des Landes gestützt. Hätten sie das nicht getan, stünde Äthiopien schon längst unter dem Mandat ausländischer Truppen und wäre ein zweites Afghanistan geworden.

KNA: In Tigray haben Rebellen und Regierungstruppen aber schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, mit UN-Truppen die Lage zu befrieden.

Asserate: Es gibt keinen gerechten Krieg. Und wo hat bisher der Einsatz von UN-Truppen dauerhaft funktioniert? Leider gibt es im Western die ungute Tradition, sich immer wieder auf die Seite von Sezessionisten zu stellen. Das löst aber die dahinter stehenden Konflikte nicht, sondern macht im Gegenteil die politische Lage immer unkalkulierbarer. Was, wenn wir eines Tages 2.000 Staaten in Afrika hätten? So viele verschiedene Ethnien gibt es nämlich auf diesem Kontinent. Es hat schon seine Gründe, warum sowohl die Charta der Vereinten Nationen als auch die Charta der Afrikanischen Union auf den Erhalt der bestehenden Staaten setzen.

KNA: Was sollte der Westen also tun?

Asserate: Er sollte zuerst dazu beitragen, dass die ethnischen Säuberungen vor allem an den Amharen sofort aufhören. Wenn er wirklich einen stabilen Partner am Horn von Afrika erhalten möchte, muss er dazu beitragen, dass die wirklichen Ursachen dieses Konfliktes gelöst werden. Meiner Ansicht nach ist der wahre Hintergrund dieser Misere die Apartheid-Verfassung von Äthiopien. Nur wenn die bestehende ethnozentrische Föderation durch eine demokratische Föderation ersetzt wird, nur dann kann Äthiopien gerettet werden.