Ein Ruhestandspfarrer der evangelischen Kirche Berchtesgaden wird 2016 und 2024 wegen des Besitzes von kinderpornografischen Bildern verurteilt, doch erst beim zweiten Mal erfährt die Gemeinde davon. Das sorgte bei den Protestanten vor Ort zuletzt für Kritik. Ein Gespräch mit dem zuständigen Münchner Regionalbischof Thomas Prieto Peral und Martina Frohmader, Leiterin der 2021 gegründeten „Fachstelle für den Umgang mit sexualisierter Gewalt“ der bayerischen Landeskirche, über Schutzkonzepte und Kommunikationspolitik.
epd: In Berchtesgaden schaut ein Ruhestandspfarrer Kinderpornos und kommt dafür zweimal vor Gericht, aber erst beim zweiten Mal wird die Gemeinde informiert. Warum?
Prieto Peral: Bei der ersten Strafanzeige 2016, die die Staatsanwaltschaft der Landeskirche gemeldet hatte, war der Pfarrer bereits seit zehn Jahren im Ruhestand. Ermittelt wurde zum Tatjahr 2013, auch das war schon im Ruhestand. Es gab also keinen direkten Dienstvorgesetzten mehr, der hätte informiert werden müssen, und auch keinen Dienstort. Die Kirchenjuristen haben korrekt Disziplinarklage gegen den Pfarrer erhoben und Maßnahmen ergriffen, zum Beispiel das unbefristete Verbot, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Dennoch würde man nach heutigem Wissen sagen, dass das nicht gereicht hat und dass dabei Fehler passiert sind.
epd: Welche Fehler meinen Sie?
Prieto Peral: Pfarrer bleiben auch in der Erinnerung einer Gemeinde Identifikationsfiguren. Strafverfahren sind deshalb für die Menschen vor Ort relevant, die mit ihnen als Haupt- oder Ehrenamtliche gearbeitet haben, denn ihre Erinnerungen sind davon unmittelbar betroffen – das muss man im Blick haben, wenn man darüber nachdenkt, wer zu informieren ist. Zudem wurden gegen den Pfarrer zwar Auflagen verhängt, aber ihre Einhaltung nicht überprüft. Nach allem, was wir wissen, hat sich der Pfarrer zwar daran gehalten, man hätte aber schon 2016 das Dekanat oder zum Beispiel die Evangelische Jugend vor Ort über die Auflagen informieren sollen. Auch müssen wir uns fragen, ob die Maßnahmen ausreichend waren. Ruhestandspfarrer helfen oft bei Gottesdiensten oder Kasualien aus. Sie stehen quasi außerhalb der Struktur, haben aber viele Kontakte – gerade deshalb müssen wir noch genauer hinschauen und klare Regelungen treffen.
epd: Nicht jeder Fehltritt eines Ruhestandspfarrers muss die Gemeinde interessieren. Aber beim Thema Kinderpornografie müssten die Alarmglocken schrillen – es könnte ja sein, dass es nicht beim Anschauen von Bildern geblieben ist. Müssten die Zuständigen bei einer solchen Meldung nachhaken, ob es im Raum der Gemeinde Vorfälle gegeben hat? Und wie könnten sie das tun?
Frohmader: Man muss überlegen, ob und wie man so ein Thema in die Gemeinde kommunizieren kann. Oft darf man aus Datenschutzgründen kaum Details nennen. Dennoch müsste klar erkennbar werden, dass sich Betroffene – falls es welche gibt – melden können und welche geeigneten Stellen es gibt. In der Kirchengemeinde Berchtesgaden hat für die Hauptamtlichen und Kirchenvorsteher sowie für die Ehrenamtlichen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mittlerweile eine Basisschulung zur Prävention sexualisierter Gewalt stattgefunden. Es gibt eine Ansprechperson, die auf der Homepage veröffentlicht ist, ebenso wie die Kontakte zu verschiedenen, auch externen Ansprechstellen. Das ist eine aktive Form, potenzielle Opfer zu ermutigen, sich zu melden.
Prieto Peral: Beim Thema Missbrauch fällt der Kirche die fehlende Kommunikations- und Informationspolitik der vergangenen Jahre auf die Füße. Wir sind mittlerweile in vielem sehr viel bewusster und klarer. Aber zu oft gehen immer noch Informationen verloren. Es gibt noch kein standardisiertes Verfahren, wie wir das Wissen über eine Person zum Beispiel bei Bewerbungen an andere Kirchengemeinden weitergeben können. Derzeit passiert das nur mit den Infos, die in den Personalakten im Landeskirchenamt liegen, und durch formlose Stellungnahmen der Dienstvorgesetzten. Was es an den bisherigen Dienstorten an problematischen Erfahrungen gibt, ist nicht zwingend enthalten. In welcher Form man etwa einen problematischen Umgang mit Macht festhalten könnte, weiß ich noch nicht. Aber wir müssen einen Weg finden, relevante Hinweise weiterzugeben, wenn nötig. Letztlich kann das auch Täter dazu bringen, sich Hilfe zu suchen.
edp: Wie kann so eine Dokumentation stattfinden, ohne Menschen zu verurteilen und dennoch andere zu schützen?
Frohmader: Information und Dokumentation sind Schlüsselwörter bei der Prävention und der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt. Viele Jahrzehnte hat es da einen Graubereich gegeben. Ob es Hinweise auf Übergriffe oder Machtmissbrauch gab, war abhängig davon, ob und was Dienstvorgesetzte dokumentiert haben. Die neuen Schutzkonzepte machen eine saubere Dokumentation dessen, was bei Ansprechstellen und -personen ankommt, zur Pflicht. Dann kann man in aller Fachlichkeit beurteilen, ob es um einen begründeten Verdacht von sexualisierter Gewalt geht oder um eine bloße Grenzverletzung. Zugleich regelt das Arbeitsrecht auch ganz klar, was überhaupt dokumentiert werden darf.
epd: Bei Missbrauchsopfern denkt man meistens an Minderjährige oder an Ehrenamtliche. Es gibt aber auch Hauptamtliche, die in ihrem Dienst sexualisierte Gewalt erfahren. Für sie ist es oft besonders schwer, sich zu wehren, schließlich hängt unter Umständen ihre berufliche Beurteilung vom Täter ab. Wohin können sie sich wenden, ohne dass sie davon Nachteile haben?
Frohmader: An unsere Ansprechstelle. Dort können sie in einem geschützten, nicht öffentlichen Raum erst einmal berichten und klären, was ihnen widerfahren ist. Sie bekommen dort eine juristische Erstberatung und psychologische Begleitung, um sich zu stabilisieren. Sie bekommen Menschen an die Seite, die sie durch den Prozess begleiten, wenn sie den Schritt an die Meldestelle machen. Dazu ermutigen wir, denn passieren kann nur etwas, wenn es öffentlich wird. Der Beschuldigte muss mit den Vorwürfen konfrontiert werden. Wenn ein Fehlverhalten vorliegt, müssen Konsequenzen gezogen werden. Diese Verfahren müssen fachlich angemessen ablaufen.
epd: Am 31. Dezember 2025 müssen laut Präventionsgesetz von Landeskirche und Diakonie alle 1.536 evangelischen Gemeinden in Bayern ein eigenes Schutzkonzept vorlegen können. Derzeit sind laut Auskunft Ihrer Fachstelle rund 60 Konzepte fertig, weitere rund 300 im Prozess – das ist nicht mal ein Viertel. Was wünschen Sie sich für die nächsten zwölf Monate?
Frohmader: Ich bezweifle, dass zum 1. Januar 2026 alle Gemeinden ihr Schutzkonzept fertig haben. Aber ich hoffe, dass dann in allen damit begonnen wurde. Aus einer Umfrage wissen wir, dass manche Gemeinden den Prozess erst mit dem gerade neugewählten Kirchenvorstand starten wollten, andere wollten Fusionsprozesse abwarten. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass das Thema und seine Priorität in der Breite angekommen ist. Das ist auch nötig, denn die ForuM-Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland hat uns gezeigt, dass Missbrauchsbetroffene in der Vergangenheit nicht das Gefühl hatten, gehört zu werden. Sie müssen eine Änderung erleben. Wir müssen ihnen zuhören, ihre Belange aufnehmen und ihnen zeigen, dass sie nicht mehr „die anderen“ sind, sondern ein Teil von uns allen.
epd: Welche Änderung können Sie denn schon feststellen?
Frohmader: Wir hatten in der Fachstelle 2024 doppelt so viele Meldungen wie im Jahr davor, aus dem ganzen Spektrum sexualisierter Gewalt. Das liegt nicht unbedingt daran, dass mehr passiert, sondern dass ein Kulturwandel langsam eintritt. Übergriffiges Verhalten wird nicht mehr geduldet und zugleich schneller sanktioniert. Die Menschen sind sensibler geworden.
Prieto Peral: Es braucht eine gewisse Zeit, bis die Schutzkonzepte auf allen Ebenen des großen Organismus Kirche angekommen sind. Wir haben es mit Verhaltensmustern zu tun, die sich nicht so schnell ändern lassen. Umso wichtiger ist es, dass nicht nur standardisierte Präventionskonzepte von den einzelnen Gemeinden oder Einrichtungen übernommen werden, sondern wirklich eigene Konzepte entstehen. So ein Prozess muss alle mitnehmen, Haupt- und Ehrenamtliche, Gäste von Gemeindezentren und Teilnehmende von Veranstaltungen. Nur dann können sich Haltung und Bewusstsein beim Thema Missbrauch und sexualisierte Gewalt ändern. (00/3953/13.12.2024)