Sie sind Zeitgenossen, Pionierin und Pionier der abstrakten Malerei. Beide sind fasziniert von den Erkenntnissen der Naturwissenschaft ihrer Zeit, etwa der Kernspaltung. Sie sehen Malerei als eine geistige Kunst und arbeiten meist in Künstlergruppen. Vieles verbindet die schwedische Malerin Hilma af Klint (1862-1944) und den russischen Künstler Wassily Kandinsky (1866-1944). Vollkommen unterschiedlich jedoch ist ihre öffentliche Anerkennung, sowohl zu Lebzeiten als auch nach ihrem Tod.
Während Kandinsky als Wegbereiter der Abstraktion gefeiert wurde, wurde Hilma af Klint, die schon vor ihm abstrakt malte, erst in den vergangenen Jahren entdeckt. „Die Geschichte der Kunst des 20. Jahrhunderts muss um ihr Werk ergänzt werden“, sagt die Direktorin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, Susanne Gaensheimer. Die Kunstsammlung präsentiert die erste gemeinsame Ausstellung von af Klint und Kandinsky vom 16. März bis 11. August im Museum K 20.
Hilma af Klint konnte in Stockholm in den 1880er Jahren als Frau bereits an der Kunstakademie studieren. „Es muss ihr alles ungeheuer leicht gefallen sein, denn wir haben keine mittelmäßigen Bilder von ihr“, sagt die Kuratorin und Autorin der af Klint-Biographie „Die Menschheit in Erstaunen versetzen“, Julia Voss, in einem Interview. Als junge Frau habe sie, um Geld zu verdienen, in einem biologischen Labor gearbeitet. Spuren davon sieht Voss besonders in af Klints Hauptwerk, zehn Gemälden, die die Künstlerin „Die zehn Größten“ nannte. Sie sind in Düsseldorf in einem eigenen Raum zu sehen.
Der Zyklus zeigt symbolisch die menschliche Lebenspanne von der Kindheit bis zum Alter. Jeder Phase ist eine Farbe zugeordnet, dunkelblau für die Kindheit, helles violett und orange für das Erwachsenenalter. Der vorherrschende Eindruck ist Bewegung. „Da schwimmt und flirrt und fliegt etwas, da dreht sich etwas und kreiselt. Manches sieht eher aus wie Befruchtung oder Verschmelzung oder Besamen“, sagt Voss.
Dass es im Leben mehr gibt als die sichtbare Welt, sei für Hilma af Klint eine selbstverständliche Erkenntnis gewesen. „Sie fühlte sich als Medium von Geistwesen“, sagt Museumsdirektorin Gaensheimer. Diese hätten ihr sowohl die Malerei als auch Notizen ihrer Tagebücher eingegeben. Af Klint war eine Anhängerin von Rudolf Steiner und seiner Anthroposophie. Sie glaubte wie er an Wiedergeburt und schreibt von sich: „Ich bin ein Atom im Universum, das über unendliche Entwicklungsmöglichkeiten verfügt, die ich versuchen werde nach und nach zu enthüllen.“
Auch Wassily Kandinsky begründete seinen neuen Weg in der Malerei in einem Buch mit ähnlichen Ideen: „Über das Geistige in der Kunst“. Wie Hilma af Klint war er von den Entwicklungen der Naturwissenschaft tief beeindruckt. Sein Weltbild und die Vorstellung dessen, wie die Welt zu malen sei, wandelte sich fundamental angesichts der Röntgenstrahlen, die Strukturen im Inneren des Körpers sichtbar machten, und vor allem im Wissen um die Kernspaltung: „Das Zerfallen des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der ganzen Welt gleich. Plötzlich fielen die dicken Mauern, alles wurde unsicher und wackelig“, schreibt Kandinsky.
Da Hilma af Klint in Stockholm lebte, wo seit 1900 die Nobelpreise vergeben werden, wob sie die neuen Entwicklungen und wissenschaftlichen Ergebnisse ebenfalls in ihr Werk ein. Nach allem, was man heute weiß, kannten die Künstler einander aber nicht persönlich, obwohl Kandinsky mit Gabriele Münter im Jahr 1916 einige Wochen lang in Stockholm lebte und dort ausstellte. „Wahrscheinlich hat Hilma af Klint davon erfahren, aber wir haben keine Zeugnisse darüber“, so Susanne Gaensheimer.
Hilma af Klint war bewusst, dass sie eine neue Bildsprache entwickelt hatte: „Die Versuche, die ich unternommen habe, werden die Menschheit in Erstaunen versetzen. Meine Bilder sind bahnbrechend“, schrieb sie 1907 zu ihrem Zyklus über das menschliche Leben. Ihrer Mitwelt aber traute sie nicht zu, diesen Wert zu erkennen und verfügte deshalb, dass ihre Werke frühestens 20 Jahre nach ihrem Tod gezeigt werden dürften. Auch deshalb werden sie erst jetzt nach und nach entdeckt. Im unmittelbaren Vergleich wirkt Kandinsky kraftvoller, af Klint dagegen feiner. Dass sie Formen und Farben der Popart der 60er und 70er Jahre vorweg genommen hat, zeigt sie als Visionärin.