Von Anfang an war sie eine Baustelle. Jetzt wird die Pflegeversicherung 30 Jahre alt. Zum Geburtstag liegen riesige Finanzlöcher und wachsende Personalsorgen auf dem Gabentisch.
Sie feiert zum Jahreswechsel ihren 30. Geburtstag. Glaubt man Experten, dann muss sie trotz ihres jungen Alters dringend renoviert und zukunftsfest gemacht werden. Aktuell sei der Druck auf die soziale Pflegeversicherung wegen ausgebliebener Reformen so hoch wie nie zuvor, urteilte der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen Ende November.
Schon an ihrer Wiege war sie hart umkämpft: Als Bundessozialminister Norbert Blüm (CDU) in den 1990er Jahren mit Blick auf die Alterung der Gesellschaft für eine Pflichtversicherung in der Pflege kämpfte, stieß er auf massive Widerstände. Die Arbeitgeber sprachen von der “größten Torheit der letzten Jahrzehnte”. Bis zuletzt wurde über die Finanzierung gezankt. Blüm setzte sich durch. Vor 30 Jahren, am 1. Januar 1995, trat die Pflegeversicherung als fünfte Säule der Sozialversicherungen neben Renten-, Arbeitslosen-, Unfall- und Krankenversicherung in Kraft.
Blüm reagierte vor allem darauf, dass immer mehr alte Menschen in die Sozialhilfe rutschten, weil sie die Kosten für Pflege und Heim nicht aufbringen konnten. Mit der SPD und gegen den Widerstand des damaligen Koalitionspartners FDP setzte Blüm durch, dass die Versicherung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern paritätisch finanziert wird. FDP und Wirtschaft wollten eine privatwirtschaftliche Versicherung. FDP-Wirtschaftsexperte Otto Graf Lambsdorff zeigte sich sicher: “Bis zum Jahr 2010 ist diese Pflegeversicherung tot.”
Sie hat überlebt. Aber sie ist eine ständige Baustelle. Seit 2008 haben Bundesregierungen immer neu an den Stellschrauben gedreht. Von den Pflegeneuausrichtungsgesetzen über die Pflegestärkungs- und Pflegeweiterentwicklungsgesetze: Die Wortungetüme verraten, dass das Thema kompliziert und teuer ist.
Dabei sind die Zahlen beeindruckend: 75 Millionen Bundesbürger sind über sie versichert. 5,7 Millionen Menschen erhalten derzeit Leistungen; ein Netz aus ambulanten Diensten, Tagespflege und Hilfen für pflegende Angehörige ist entstanden. Rund 4,9 Millionen Leistungsempfänger werden ambulant versorgt. Stationär gepflegt werden rund 800.000 Menschen.
Zudem zeigt ein Blick auf den Altersaufbau der Gesellschaft, dass das Thema Pflege eine der zentralen politischen Herausforderungen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ist. Laut Statistischem Bundesamt wird die Zahl der pflegebedürftigen Menschen bis 2055 auf etwa 6,8 Millionen ansteigen.
Doch wer soll das finanzieren? Und wer soll die Pflege übernehmen? Schon jetzt sehen Experten eine schwere finanzielle Schieflage. Laut Verband der Ersatzkassen droht bereits 2024 ein Defizit von 1,8 Milliarden und 2025 von 3,5 bis 5,8 Milliarden Euro.
Die Wege, mehr Geld ins System zu bringen, sind begrenzt und umstritten: Mehr Steuermittel, höhere Versicherungsbeiträge, mehr private Vorsorge oder mehr Eigenbeteiligung der Pflegebedürftigen, das sind die Stellschrauben. Ein Positionspapier der Union aus vergangenem Jahr sieht einen “Finanzierungsmix” vor: gesetzliche Pflegeversicherung, betriebliche Mitfinanzierung und eigenverantwortliche Vorsorge. SPD, Grüne und Sozialverbände dagegen fordern seit langem einen grundsätzlichen Spurwechsel – hin zu einer Bürgerversicherung, in die alle einzahlen und die auch alle Einkommensarten berücksichtigt.
Fest steht derzeit nur eine weitere Beitragsanhebung: Schon zum 1. Juli 2023 waren die Beiträge für Menschen ohne Kinder auf vier Prozent und für Beitragszahler mit einem Kind auf 3,4 Prozent angehoben worden. Ab Januar steigen sie erneut um 0,2 Prozentpunkte auf 3,6 Prozent. Kinderlose zahlen dann 4,2 Prozent.
Für die Frage, ob Pflegebedürftige künftig noch angemessen versorgt werden können, ist vor allem ein Faktor entscheidend: die Verfügbarkeit von Arbeitskräften. Rund ein Fünftel aller Pflegekräfte geht in den kommenden zehn Jahren in Rente. Auch die Pflegedauer wird immer länger: Während kürzlich verstorbene Pflegebedürftige durchschnittlich 3,9 Jahre lang auf Hilfe angewiesen waren, wird sich die Dauer bei aktuell Pflegebedürftigen auf 7,5 Jahre verdoppeln, rechnet der Barmer-Pflegereport vor.
Wichtige Aufgabe der Politik bleibt es daher, die Arbeitsbedingungen attraktiver zu gestalten. Bessere Löhne gibt es bereits: durch einen höheren Mindestlohn und die Vorgabe der Bundesregierung, dass nur solche Pflegeeinrichtungen mit den Kassen abrechnen dürfen, die nach Tarifverträgen oder tarifähnlich bezahlen.
Das hat allerdings gleichzeitig zu höheren Kosten für die Pflegebedürftigen geführt. Schon wieder ist rund ein Drittel aller Heimbewohner auf Sozialhilfe angewiesen, weil sie sich den Eigenanteil nicht leisten können. Im Bundesdurchschnitt sind im ersten Aufenthaltsjahr monatlich 2.871 Euro fällig.