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Österreichs “Zuckerlkoalition” seit 100 Tagen im Amt

Seit 100 Tagen regiert in Österreich eine Kompromiss-Koalition. Die politische Zweckgemeinschaft ist nicht die schlechteste Lösung, wie Umfragen zeigen. Aber reicht das in Krisenzeiten?

“Ampelkoalition” oder doch “Zuckerlkoalition” – wie sollte man die Regierung, zu der sich in Österreich im Februar Konservative, Sozialdemokraten und Liberale zusammenfanden, am besten nennen? “Wuascht”, meinten etliche Beobachter in Wien: Lange würde das Politexperiment ohnehin nicht überleben. Am Mittwoch wird Österreichs neue Regierung 100 Tage alt – und konnte in den ersten Amtstagen so manchen Pessimisten doch überzeugen.

Kurz vor dem Regierungsjubiläum wurde in Wien über eine Rückkehr des beliebten Ex-Kanzlers Sebastian Kurz – alias “Wunderwuzzi”, österreichisch für “Tausendsassa” – spekuliert. Grund war Kurz’ unerwarteter Freispruch in einem Falschaussageprozess. Doch Christoph Hofinger, Direktor des Meinungsforschungsinstituts Foresight in Wien, dämpfte die Euphorie: “Im Augenblick ist ein Kurz-Comeback angesichts der stabilen Regierungssituation rund um Kanzler und ÖVP-Chef Christian Stocker äußerst unwahrscheinlich.”

Stocker, Anwalt und Ex-Bürgermeister, ist der Kanzler, mit dem niemand gerechnet hatte. Das passt zu der Regierung, die er anführt. Bei der Wahl im vergangenen September schien bereits die Stunde der Populisten geschlagen zu haben, als die rechtsnationale Freiheitliche Partei (FPÖ) mit fast 29 Prozent den ersten Platz holte. Deren Obmann Herbert Kickl sah sich schon als nächsten “Volkskanzler”. Abgeschlagen landeten Stockers Volkspartei (ÖVP) und die Sozialdemokraten (SPÖ) auf Platz zwei und drei. Nach langem Ringen und gescheiterten Verhandlungen mit der FPÖ gelang es den einstigen Großparteien schließlich, gemeinsam mit den liberalen Neos, eine Brandmauer gegen Rechts zu bilden.

Die Dreierkoalition ist eine demokratische Zweckgemeinschaft von ideologisch unterschiedlichen Parteien. Aber: Dafür läuft es bisher erstaunlich rund.

Beobachter beschreiben den Führungsstil von Stockers Kabinett als besonnen, unaufgeregt, stabil. Auch der große Krach, mit dem Kritiker gerechnet hatten, blieb bis dato aus. Zwar gibt es immer wieder Tadel für die jeweils anderen Koalitionspartner – zuletzt etwa, als Stocker mit anderen EU-Regierungschefs vorschlug, die Europäische Menschenrechtskonvention mit Blick auf straffällige Migranten nachzujustieren. Doch Streit in der Koalition dauert eher nicht lange. Jede Partei gönnt der anderen ihre Erfolge – Motto: leben und leben lassen.

Das spiegelt sich auch in der öffentlichen Meinung wider. Nach einer Umfrage der auflagenstärksten “Kronen Zeitung” sind 46 Prozent zufrieden mit der Arbeit von ÖVP, SPÖ und Neos. “Noch bemerkenswerter: Rund 60 Prozent glauben, dass dieses von Beginn an als fragil eingestufte Konstrukt, erstellt in höchst volatilen Zeiten, die gesamte Legislaturperiode von fünf Jahren amtieren wird”, so das Boulevardblatt am vergangenen Sonntag.

In anderen Umfragen schnitt das politische Dreiergespann schlechter ab. So oder so stellt sich die Frage: Reicht der interne Kuschelkurs? Denn in einem sind sich die meisten Politologen einig: Echte Reformen, und damit Anlass für Streit, wurden auf später vertagt. Migration, Erbschaftssteuer, Bildung und Wirtschaft sind Bereiche, in denen die Koalition angesichts unterschiedlicher Parteilinien noch zerreißen könnte.

Das politische Fragzeichen kommt in Krisenzeiten. Die Alpenrepublik ist EU-Schlusslicht in puncto Wirtschaftswachstum. Nach zwei Rezessionsjahren in Folge prognostizieren Fachleute der österreichischen Wirtschaft dieses Jahr ein Wachstum von knapp über null Prozent. Das klaffende Budgetloch will die Regierung dieses und kommendes Jahr mit einem 15-Milliarden-Euro-Sparpaket stopfen; inklusive unpopulärer Maßnahmen wie höheren Steuern, dem Einfrieren der Familienbeihilfe und der Teuerung des beliebten “Klimatickets” für die Bahn.

Trotzdem: Durch die Brille eines proeuropäischen Demokraten scheint die politische Zweckehe alternativlos. In Umfragen liegt Kickls europaskeptische FPÖ nach wie vor auf Platz eins, konnte die Zustimmung seit der Wahl sogar ausbauen. Österreichs Mitte-Parteien täten gut daran, sich zu fragen: Warum? Während die neue Regierung Stabilität zurückgebracht hat, fehlt nach wie vor eine breite Aufbruchstimmung. Die bräuchte es bis spätestens zur nächsten Wahl.