Artikel teilen

Öfter mal zum Stift greifen

In einigen Ländern müssen junge Menschen keine Schreibschrift mehr lernen. In Deutschland wollen Bildungsexperten und Elternverbände die Handschrift retten. Denn das Schreiben mit der Hand ist gut für die Handmuskulatur und die Gedächtnisleistung

igor - Fotolia

Sie steht schon fast auf der Roten Liste für bedrohte Arten. Glaubt man Bildungsexperten und dem BundesElternRat, stellt das Schreiben mit der Hand im Zeitalter von Computer und Tablet immer mehr Kinder vor große Probleme. Bei der Kölner Bildungsmesse didacta riefen der Didacta Verband sowie das Schreibmotorik Institut zusammen mit dem BundesElternRat am Mittwoch deshalb die „Aktion Handschreiben 2020“ ins Leben.

Nostalgie oder Bildungsromantik?

Ihr Ziel: Die Forschungen zum Handschreiben sollen verbessert und die Erkenntnisse in der Lehrerbildung besser verankert werden. Bis 2020 soll ein flächendeckendes Programm zur Förderung des Handschreibens in Kitas und Schulen entwickelt werden. Andere Länder ziehen andere Konsequenzen: Seit diesem Jahr müssen finnische Schüler keine Schreibschrift mehr lernen, in den USA ist es bereits jetzt schon weitgehend so.
Die meisten Eltern in Deutschland wollen das offenbar nicht. In einer auf der Bildungsmesse vorgestellten Umfrage des Instituts für Schreibmotorik halten mehr als 96 Prozent der Eltern das Schreiben mit der Hand noch für wichtig, fast zwei Drittel davon sogar für sehr wichtig.
Zugleich klagten aber über 23 Prozent der Eltern, dass ihre Kinder Probleme haben, mehr als 30 Minuten am Stück zu schreiben. Das wären hochgerechnet auf Deutschland 1,2 Millionen Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren, die nicht ausdauernd leserlich und ohne Verkrampfungen schreiben können. Nach Schätzung von Lehrkräften sind sogar rund die Hälfte der Jungen und ein Drittel der Mädchen von diesen Problemen betroffen.
Klar ist: Immer mehr Kinder haben Schwierigkeiten, im Verlauf des Schriftspracherwerbs in der Grundschule eine „gut lesbare, flüssige Handschrift“ zu entwickeln, wie es in den bundesweit geltenden Bildungsstandards „Deutsch für die Primarstufe“ vorgegeben ist. Christian Marquardt, Wissenschaftlicher Beirat des Schreibmotorik-Instituts, spricht von einer Besorgnis erregenden Entwicklung. Schon vor Monaten warnte der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, vor einer „feinmotorischen Verarmung“. Verbirgt sich dahinter Nostalgie oder Bildungsromantik?
Lehrerverbandschef Kraus und die Nürnberger Bildungsforscherin Stephanie Müller sehen das anders. „Wer gut und versiert schreibt, der prägt sich Geschriebenes besser und konzentrierter ein, er ist intensiver bei der Sache, er schreibt bewusster, setzt sich intensiver mit dem Inhalt und dem Gehalt des Geschriebenen auseinander“, sagt Kraus.
Auch Müller gibt zu bedenken, dass sich Menschen handschriftlich Festgehaltenes besser einprägten, als wenn es per Computer getippt wird. Für sie geht es um die Entwicklung der Feinmotorik in den ersten sechs, sieben Lebensjahren. In Tests zeige sich, dass viele Erstklässler nicht einmal in der Lage seien, eine handelsübliche Knetstange weich zu kneten oder feinere Schneideaufgaben zu machen, sagt sie und verweist darauf, dass eine Hand ein hochkomplexer Apparat mit über 30 Muskeln ist, dessen Steuerung gelernt sein muss.

Schreiben – eine gute Übung für Handmuskeln

„Die Kindheit heute ist nicht mehr so bewegt“, sagt Stephanie Müller. Früher habe man viel draußen gespielt, sei herumgehüpft und auf Bäume geklettert. „Heute können Kinder in der dritten Klasse nicht mal mehr gerade rückwärtsgehen oder freihändig auf einem Bein stehen.“
Dennoch sei das Gehirn von der Evolutionsbiologie her weiter so angelegt, dass Bewegung mehr Synapsenverschaltungen schaffe und dadurch auch eine höhere Denkleistung entsteht. „Eine Tastatur zu tippen oder zu drücken, hat bei Weitem nicht so differenzierte Bewegungen der Hand wie die verschiedenen Richtungen beim Schreiben.“
Müller betont, dass althergebrachte Kulturtechniken nicht gegen die neuen Technologien wie das Computerschreiben ausgespielt werden sollten. „Es geht um eine Sowohl-als-auch-Pädagogik und nicht Entweder-oder.“