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Neubrandenburg: “Die Zivilgesellschaft ist aufgewacht”

„Die Nachricht vom Rücktritt unseres Oberbürgermeisters Silvo Witt hat hier in Neubrandenburg extreme Wellen geschlagen“, sagt Pastor Jörg Albrecht von der Michaelsgemeinde der Vier-Tore-Stadt in Mecklenburg. „Danach ist die Zivilgesellschaft aufgewacht.“

Witt, 46, parteilos, führt seit 2015 die Geschicke der Stadt, engagiert sich für Vielfalt. Mit seinem Rücktritt zog er die Konsequenz aus den Anfeindungen, die ihm deshalb und wegen seiner Homosexualität immer wieder entgegenschlugen, wie in Tageszeitungen deutschlandweit zu lesen ist. „Was da passiert ist, waren nicht nur Schmähungen auf politischer Ebene, sondern es war Mobbing ganz konkret auf die Person Silvio Witt bezogen“, sagt Albrecht.

Der Pastor ist selbst Mitglied der Bürgerschaft. Er beschreibt den letzten Impuls, der Witt wohl zu seiner Entscheidung führte: die Entscheidung der Bürgerschaft, die Regenbogenfahne vom Neubrandenburger Bahnhof zu entfernen. „Was mich besonders erschüttert hat, war, dass dieses Votum durch die vielen Stimmenthaltungen vor allem im Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) möglich wurde“, sagt Albrecht. In Neubrandenburg laufen seither verschiedene Solidaritätsaktionen: Menschen demonstrieren für eine weltoffene Stadt, Geschäfte hissen Regenbogenfahnen.

Auch die Christen der Stadt haben nun deutlich ihr „Nein!“ zum Ausdruck gebracht. Seit Jahren engagiert sich der Pastor gemeinsam mit anderen in einem Netzwerk: dem Christliches Forum Neubrandenburg (CFN). Zwölf christlich orientierte Vereinigungen arbeiten darin zusammen: evangelisch, katholisch, freikirchlich, methodistisch oder neuapostolisch, von der Adventgemeinde über die Liebenzeller Mission bis zum Verein Polylux. Inklusive der Neustrelitzer Pröpstin Britta Carstensen. Sie alle verfassten ein Papier: „Wir positionieren uns klar gegen Ausgrenzung und jede Form von Gewalt“, so der Neubrandenburger.

„Als Christinnen und Christen beobachten wir mit brennender Sorge, wie spaltende Kräfte das friedliche Zusammenleben in Neubrandenburg stören“, beginnt das Statement, das der CFN am 23. Oktober veröffentlichte. „Wir sehen und hören, wie teils raue Umgangsformen Gräben zwischen politischen Einstellungen, Menschen unterschiedlicher Herkunft und individuellen Lebensweisen ziehen. Ebenso erleben wir, wie diese Kräfte demokratisch engagierte Mitbürgerinnen und Mitbürger durch Anfeindungen zu Resignation und Rückzug drängen. Diese Entwicklungen in unserer Stadt sind für die christlichen Gemeinden Neubrandenburgs nicht hinnehmbar. Wir stehen für die Würde aller Menschen ein, die hier leben.“

Vor rund einem Monat hatte die Stadtvertretung beschlossen, dass die Regenbogenfahne am Bahnhof nicht mehr gehisst werden darf. Der Beschluss auf Antrag des Stadtvertreters Tim Großmüller (Stabile Bürger Neubrandenburg) begründete das Verbot mit wiederholten Diebstählen und Fällen, in denen die Fahne durch rechte Symbole ersetzt wurde. Grundsätzlich sollten nur noch Bundes- oder Landesflaggen wehen. Diese Entscheidung hatte eine Welle vom Protesten ausgelöst. Infolge des Beschlusses hatte Oberbürgermeister Witt seinen Rücktritt angekündigt. Inzwischen hat eine Online-Petition für die Rückkehr der Regenbogenflagge mehr als 41.000 Unterschriften gesammelt.

Die Mehrheit der Stadtvertreter will jetzt am 13. November einen fraktionsübergreifenden Antrag einbringen, um das Thema Toleranz und Weltoffenheit in Neubrandenburg neu zu betonen, wie die Stadt auf Nachfrage bestätigte. Der neue Antrag, getragen von einer Zählgemeinschaft aus SPD, Grünen und Linken sowie Teilen der Fraktionen von CDU und BSW/BfN (Bürger für Neubrandenburg) solle das Thema breiter fassen. Bereits über 20 der 42 Stadtvertreter und Ratsherren haben ihre Unterschrift für den Antrag gegeben.

Anstelle einer Rücknahme des sogenannten Großmüller-Beschlusses soll der Antrag ein Zeichen für Zusammenhalt und Vielfalt setzen und deutlich machen, dass die Regenbogenfahne nicht allein im Fokus stehe – vielmehr soll es um ein klares Bekenntnis zur Weltoffenheit und Toleranz im Alltag der Stadt gehen, hieß es vonseiten der Antragsteller.