In Goethes „Zahmen Xenien“ heißt es: „Jüngling, merke dir in Zeiten, / Wo sich Geist und Sinn erhöht: / Daß die Muse zu begleiten, / Doch zu leiten nicht versteht.“ Goethe irrte, was den am 30. September verstorbenen Rainer Bürgel betraf. Der lebte in Zeiten, wo sich Geist und Sinn erhöhte, spielte aber nicht nur vorzüglich Orgel und Klavier, sondern verstand es ebenso vorzüglich, große und kleine Gremien zu leiten.
Schon mit acht Jahren saß er auf der Orgelbank in seiner schlesischen Geburtsstadt Lauban (heute: Luban). Als 11-Jähriger übernahm er in Goldberg (heute: Złortorja) bis zur Vertreibung seiner Familie im Jahr 1947 den gesamten Orgeldienst. Doch nicht Organist oder Pianist ist der vielfach Begabte geworden, sondern Kirchenjurist und was für einer.
Rainer Bürgel: Studium in der DDR blieb ihm verwehrt
Da ihm das Studium in der DDR versperrt war, musste Bürgel Wolfen, wo der Vater Pfarrer geworden war, nach dem Abitur verlassen. Nach westdeutschem Notabitur, Jurastudium an der FU in Berlin, den beiden juristischen Staatsprüfungen und fünfjährigem Dienst im Westberliner Konsistorium wechselte er 1970 in die Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union (EKU). Wohl auch, weil zu den 7 EKU-Gliedkirchen der Rest der ehemaligen Kirchenprovinz Schlesien gehörte. In der EKU-Kirchenkanzlei-West wurde er 1983 als Finanzdezernent Stellvertreter des Leiters und blieb es auch in der wiedervereinigten EKU. Die vielfältigen Begabungen und Fähigkeiten Bürgels kamen nun nicht nur Berlin, sondern der EKU, ja der EKD insgesamt zu Gute.
Als Meister bündiger und integrierender Leitung führte Bürgel lange Jahre die Geschäfte des Evangelischen Kirchbautags und leitete Kuratorien wie die des Evangelischen Bildungswerks Berlin, des Paul-Gerhardt-Stifts oder des Johannesstifts. Hinzu kam die Ständige Konferenz für Kirchenmusik der EKD. Noch in seinem letzten Dienstjahr 1998 wählte ihn, der auch „in Architektur und bildender Kunst“ die „Verleiblichung der frohen Botschaft“ suchte, die Leitung des Kirchbautags zum Vorsitzenden.
Kirchenmusiker bis zum Jahr des Todes
Den Gemeinden blieb Bürgel als Kirchenmusiker bis ins Jahr seines Todes treu. Als er 2001 in einer Annonce las, die Paul-Gerhardt-Gemeinde in Lübben suche einen „Kantor in Vertretung“, stellte er sich spontan zur Verfügung gemäß der Losung, die er als Vorsitzender der Berliner Bachgesellschaft gelegentlich ausgegeben hatte: „Hauptsache ist, dass immer etwas los ist. Es muss immer etwas los sein.“ Eine verschlafene, eine schlafende Kirche war Rainer Bürgel zuwider. In der wachen Zehlendorfer Pauluskirche, wo Bürgel mit seinen vier Kindern zu Hause war und lange in der Kantorei sang, haben die große Familie und viele Weggefährten und -gefährtinnen am 7. November schweren, aber dankbaren Herzens von ihm Abschied genommen.
Dr. Wilhelm Hüffmeier war bis 2006 Leiter der Kirchenkanzlei der Union Evangelischer Kirchen (UEK). Bis 2015 war er Präsident des Gustav-Adolf-Werkes, Leipzig.