Wer schwer psychisch krank ist, ist gefährlich? Diese Vorstellung hält sich hartnäckig – doch sie ist falsch. Fachleute sehen die Stigmatisierung als gefährlich an – nicht nur für Betroffene.
Der Attentäter, der kürzlich in München in einen Demonstrationszug fuhr, wird psychiatrisch begutachtet. Beim Attentäter vom Magdeburger Weihnachtsmarkt ist inzwischen klar, dass er an einer psychischen Erkrankung litt. Und am kommenden Montag wird es genau zehn Jahre her sein, dass der Copilot eine Germanwings-Maschine absichtlich zum Absturz brachte. Drei extreme Gewalttaten, die eine alte Debatte neu befeuern.
Nach solchen Bluttaten ist die Frage berechtigt, was die Täter um- und angetrieben hat. Allerdings werde häufig überschätzt, wie viele psychisch Erkrankte zu Gewalt neigten, sagt der Psychiater Bernhard Bogerts. 95 Prozent von ihnen seien – im Vergleich zu 98 Prozent der Gesamtbevölkerung – nicht gewalttätig; “geschweige denn, dass sie Amokläufe oder Terroranschläge begehen”, sagte Bogerts jetzt im “Tagesspiegel”.
Stigmatisierung mache es derweil denjenigen schwer, die angesichts einer psychischen Belastung nach Hilfe suchten: Davor warnt der Psychologe Lukas Maher. Wer in bestimmte Gruppen von Menschen “hineinzoome”, werde Häufungen von Gewaltbereitschaft feststellen: “Bei näherer Betrachtung zeigt sich etwa, dass Gewaltbereitschaft auch ein Männerproblem ist, das häufig mit Armut oder einem begrenzten Zugang zu sozialen Möglichkeiten zusammenhängt.”
Zugleich lässt sich bei der Hälfte derjenigen, die schwerste Gewaltverbrechen begehen, eine psychische Erkrankung nachweisen. “Schizophrene Psychosen gehen mit einer geringgradigen Erhöhung des Gewaltrisikos einher”, sagt Hirnforscher Bogerts. Diese Störung betrifft etwa ein Prozent der Weltbevölkerung. Laut Maher erhöht sich ihr Gewaltpotenzial vor allem dann, wenn die Erkrankung nicht behandelt wird und wenn Alkohol oder andere Drogen im Spiel sind: “Und wer einmal auf dem Oktoberfest war, weiß, dass es keine Diagnose braucht, damit das Gewaltpotenzial steigt, wenn die ersten Krüge geleert sind.”
Zudem können auch etwa Hirnverletzungen psychoseartige Zustände auslösen – gefeit ist davor, wie vor vielen psychischen Erkrankungen, niemand. Wer an einer Psychose erkranke, nehme die Realität anders wahr, erklärt Bogerts. “Typisch sind wahnhafte Symptome: Betroffene fühlen sich verfolgt oder bedroht, oft hören sie Stimmen.” Der Psychiater sagt auch, dass die Grenze zwischen extremistischer Ideologie und psychotischer Wahrnehmung häufig fließend seien, dass Betroffene mitunter Ärzten oder Therapeutinnen misstrauten, weil sie ihre eigene Fehlwahrnehmung als real erlebten.
Fachleute beobachten schon länger, dass die erfolgreiche Aufklärung über Erkrankungen wie Depressionen teils zu Lasten etwa von Psychosen geht. Der Stigmatisierungsforscher Sven Speerforck verweist auf Langzeitstudien, die dies zeigten: “Die Einstellung gegenüber Menschen mit Depressionen wird eher besser – die Einstellung gegenüber anderen Erkrankungen oder Sucht jedoch nicht, im Gegenteil. Diese Schwierigkeiten wollen die Menschen tendenziell sogar noch mehr auf Abstand halten.”
Nach dem Germanwings-Absturz seien Patientinnen und Patienten auf seiner Station besorgt gewesen, so der Leipziger Oberarzt – “nach dem Motto: Jetzt werden wir in diese Schublade gesteckt”. Gewalttätigkeit und Unberechenbarkeit stünden oft im Fokus der Medien, “wodurch das Bild verzerrt wird”, betont Speerforck: Vor allem hätten Menschen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen ein deutlich höheres Risiko, selbst Opfer von Gewalt zu werden.
Auch Psychotherapeut Maher kritisiert die “Machtposition”, aus der Medien manche Zuschreibung tätigten. “Das ist brandgefährlich.” Der Attentäter von Magdeburg hat einen Migrationshintergrund, lehnt offenbar indes den Islam ab und sympathisiert mit der AfD – “es ist eben komplex, und das können viele Menschen nicht gut ertragen”, sagt Maher.
Gleich nach dem Anschlag mit mehreren Toten forderte der Terrorismusforscher Peter R. Neumann ein Umdenken über Täter-Typen. In Kategorien wie “Rechtsextremist, Linksextremist, Islamist” passten Menschen wie der Magdeburger Täter kaum hinein, sagte Neumann bei Spiegel Online. Dieser habe sich “seine eigene verschwörungstheoretische und von außen schwer nachvollziehbare Ideologie zusammengebastelt”. Eine solche Kombination “aus Wahnvorstellungen und ideologischem Extremismus” werde häufiger.
Laut Psychiater Bogerts gibt es sowohl Fälle, in denen sich Ideologie und psychotische Störung selbst für Fachleute schwer unterscheiden lassen – als auch die, in denen diese Trennung eindeutig ist. Manche Präventionsprogramme hätten sich darauf spezialisiert, entsprechende Warnsignale zu erkennen. Häufig werde es jedoch noch nicht ernstgenommen, wenn jemand Andeutungen mache, etwa über Rache oder eine geplante Gewalttat spreche.