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Mukasonga: “30 Jahre nach dem Genozid bin ich stolze Ruanderin”

Die ruandische Autorin Scholastique Mukasonga verlor ihre Familie im Völkermord, der am 7. April 1994 begann. Mukasonga wurde für ihre Romane vielfach ausgezeichnet. Zuletzt ist ihr Roman „Kibogos Himmelfahrt“ auf Deutsch erschienen. Der Evangelischer Pressedienst (epd) sprach mit der in Frankreich lebenden Schriftstellerin über die Notwendigkeit, sich zu erinnern, und ihren Blick auf ihr Land 30 Jahre nach dem Genozid.

epd: Frau Mukasonga, Sie haben Ihre ganze Familie durch den Völkermord an den Tutsi verloren, der am 7. April vor 30 Jahren in Ruanda begann. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?

Mukasonga: Ich war 1994 zwischen April und Juni in Frankreich, während in Ruanda die Schrecken des Völkermords an den Tutsi entfesselt wurden. Ich wusste genau, dass es in meinem Dorf Nyamata im Südosten des Landes keine Überlebenden geben würde, da es dort nur Tutsi gab: 1960 waren viele von ihnen dorthin verschleppt und ghettoisiert worden. Meine Familie gehörte zu diesen Deportierten und ich war vier Jahre alt, als ich zum ersten Mal ins Exil nach Burundi ging. Ein Brief, den ich Ende Juni 1994 erhielt, bestätigte meine Befürchtung: Er enthielt eine Liste mit 37 Namen meiner Familienmitglieder, die in Ruanda geblieben und getötet worden waren. Von ihnen blieben nur noch ihre Namen übrig, sodass ich Angst um meine Erinnerung bekam.

epd: Sie haben später in Ihrem Roman „Die Frau mit den nackten Füßen“ Ihrer Mutter ein Denkmal gesetzt. Wie kam es dazu?

Mukasonga: In der Panik, meine Erinnerungen an diese Menschen zu verlieren, schrieb ich ihre Namen und dann die aller Dorfbewohner in ein Schulheft. Um diese Namen herum sammelten sich lustige oder tragische Erinnerungen: der ganze Alltag dieser kleinen Welt der „inneren Exilanten“, die um jeden Preis zu überleben versuchten. Daraus entstand ein Buch, „Inyenzi ou les Cafards“, das noch nicht auf Deutsch erschienen ist, und ein zweites „Die Frau auf bloßen Füßen“ als Hommage an meine Mutter und alle Mütter mit Mut, die versuchen, ihre Kinder vor dem sicheren Tod zu retten. Es sind Papiergräber, die ich für meine Angehörigen errichtet habe, die für immer unbestattet bleiben werden.

epd: Was bedeutete der Genozid für Ihre Identität einer Ruanderin, die in Europa lebt?

Mukasonga: Ich habe mich lange Zeit geweigert, zu sagen, woher ich komme. Die Worte Ruanda oder ruandisch konnte ich nicht aussprechen. Wenn ich gefragt wurde: „Sie sind also Ruanderin?“, tat ich so, als hätte ich nicht zugehört, um nicht antworten zu müssen. Für meine französischen Nachbarn war Ruanda ein paar Horrorszenarien im Fernsehen: Leichen, die auf den Pisten lagen, Babys, die gegen die Wände geschlagen wurden, Frauen, die von HIV-Infizierten vergewaltigt wurden, Flüchtlingskolonnen, die Bleche mit sich trugen, Cholera, ein Vulkan, der Lava spuckte… Für meine Nachbarn waren Massaker zwischen obskuren Stämmen, Epidemien und Hungersnöte das, was Afrika ausmachte.

epd: Und heute 30 Jahre nach dem Genozid?

Mukasonga: 30 Jahre nach dem Völkermord bin ich stolz darauf, Ruanderin zu sein, stolz darauf, dass mein Land wiederaufgebaut wurde. Die Presse hat diese Wiedergeburt als „ruandisches Wunder“ bezeichnet. Und das erste Wunder bestand darin, dass der Völkermord an den Tutsi, der sich in Gleichgültigkeit der ganzen Welt abgespielt hatte, beendet und innerhalb weniger Jahre Frieden und Sicherheit wiederhergestellt wurden, indem man sich auf eine von der Tradition inspirierte Justiz, die Gacaca, stützte, die dem Volk eine Stimme gab – und zwar sowohl den Opfern als auch den Mördern. Versöhnung ist nicht das Verschweigen des Völkermords, sondern das klare Bewusstsein, dass die Vergangenheit die Zukunft nicht belasten darf.