Die Kunsthalle München feiert ihr 40-jähriges Bestehen mit einer Fotoausstellung über “Civilization”. Wie leben die Menschen heute, was hat der Fortschritt aus ihnen gemacht und wo geht’s hin? Eine Schau zum Nachdenken.
Einfach dem blauen Band mit den vielen Jahreszahlen folgen. Dieses führt einen aus dem Foyer über Gänge und Stufen mitten ins Universum; hinein in die bis 24. August zu sehende Ausstellung “Civilization. Wie wir heute leben” in der Kunsthalle München. Sie ist in den 40 Jahren ihres Bestehens die inzwischen 120. Schau. Passend zum Jubiläum könnte diese aktueller nicht sein, sagt Direktor Roger Diederen. Auf künstlerische Weise wird eine beeindruckende fotografische Bestandsaufnahme der Menschheitsgeschichte geliefert.
Gleich zu Beginn bekommt der Besucher einen grandiosen Blick auf die Erde mit ihren Kontinenten und Meeren geboten, wie ihn sonst nur Astronauten haben. Raumfahrt, das ist eine jener Leistungen, die die Zivilisation hervorgebracht hat. Doch keine Ariane-5-Trägerrakete könnte vom Weltraumbahnhof Französisch-Guyana in den Orbit abheben, wie es Michael Najjar 2016 mit seiner Kamera festgehalten hat, hätten nicht viele zusammengearbeitet.
Das Wissen von heute baut auf dem früherer Generationen auf – einst in Büchern niedergeschrieben und in prächtigen Bibliotheken aufbewahrt. Candida Höfer hat eine solche im Augustiner-Chorherrenstift Sankt Florian festgehalten. Sie gehört zu jenen Fotografinnen und Fotografen, die einem in den über 200 präsentierten Bildern die großen menschlichen Errungenschaften bis hin zu kollektiven Fehlschlägen vor Augen führen. Eigens für München hat sich das Team bemüht, die seit 2018 unter anderem in London präsentierte Fassung zu überarbeiten. So flossen auch die Corona-Pandemie und Künstliche Intelligenz als Themen ein.
Um in diesen “verrückten Zeiten” aktuell zu sein, wurden Aufträge an örtliche Fotografen vergeben. Thomas Mandl nahm sich mehrere Tage Zeit, um mit seiner in den Bayerischen Staatsforsten gemachten Fotografie das Prinzip der Nachhaltigkeit zu zeigen. Gelungen ist ihm eine meditativ wirkende Szene. Neben einem im Horizont verschwindenden Weg, auf dem der Förster kaum zu erkennen ist, lagern links und rechts hoch auftürmt Baumstämme. Um das Holz zu einem guten Preis verkaufen zu können, darf es nicht von Schädlingen befallen sein. Dafür, dass es feucht gehalten wird, sorgen Wasserstrahlen aus Spritzen, die im Licht wie Sonnenstrahlen wirken.
Kulturen weltweit werden vorgestellt. Auch wird gezeigt, auf welche Weise Menschen produzieren und konsumieren, arbeiten und spielen, reisen und wohnen, denken und gestalten, kooperieren und in Konflikt geraten. Immer mehr Leute leben in Großstädten, sie brauchen Wohnungen und müssen versorgt werden. Entsprechend groß sind die Häuser und Märkte. Roger Eberhard demonstriert in seinen Werken über zwölf bekannte Städte (2015/16), dass – egal ob Shanghai, Venedig oder New York – Standard-Hotelzimmer sich nicht wirklich unterscheiden, nur die Position der Kopfkissen variiert.
Eine der großen Errungenschaften ist die Mobilität. Sogar den Himmel hat sich die Menschheit erobert und aufteilt. Sinnbildlich steht dafür Jeffrey Milsteins aus der Vogelperspektive aufgenommener, einem Uhrkreis gleichender Terminal des Flughafens Newark bei New York (2016). Dort docken die Flugzeuge an, lassen die Passagiere raus – und heben mit neuen wieder ab. Am Ende landen Flieger samt Autos und anderem Schrott auf Mülldeponien in Lateinamerika und den USA, wie Cássio Vasconcellos zeigt.
Und während immer mehr Menschen vor Krieg und Konflikten fliehen und dabei um ihre Existenz kämpfen, tritt der privilegierte Teil der Menschheit seine eigene Art der Flucht an. Die Freizeitindustrie sorgt für Abwechslung, um in Spaßbädern in Traumlandschaften abzutauchen. Eine riesige Fototapete erinnert daran, wie im Sommer 2024 der Münchner Olympiapark zur Picknick-Landschaft wurde, als Taylor Swift im Stadion ein Konzert gab.
Und wie geht’s weiter? Schaurig schön mutet Gregor Sailers in grellem Pink erscheinende Algenfarm an, genauso futuristisch wie der humanoide Roboter “Rollin’ Justin” (Reiner Riedler) mit einem roten Besen in seinen Greifarmen. “Die ganze Angelegenheit läuft also auf folgende Frage hinaus: Kann der menschliche Geist beherrschen, was der menschliche Geist gemacht hat?”, hielt der Philosoph Paul Valéry (1871-1945) fest. Eine Antwort steht aus.