Vor knapp 130 Jahren traten junge Visionäre in München an, die Kunst zu revolutionieren und das Leben zu reformieren. Gerechter sollte es zugehen und nachhaltiger. Ihre Ideen wirken bis heute nach.
Mit dem “Jugendstil” befasst sich eine neue Ausstellung in der Münchner Kunsthalle. Eine opulente Schau präsentiert 430 Objekte aus Kunstgewerbe, Skulptur, Malerei, Grafik, Fotografie, Mode und Schmuck.
Der Ruf der Stadt als weltoffene Kulturmetropole zog Kunstschaffende aus ganz Europa an. Ab 1896 erschien die Zeitschrift “Jugend”, die sich allen Lebensbereichen widmete und der neuen Strömung ihren Namen gab. Diese war von Anfang an keine einheitliche Bewegung. Ihre Vertreterinnen und Vertreter setzten sich ästhetisch vielfältig mit den großen Fragen ihrer Zeit auseinander. Das beweisen allein schon die bunten Titelseiten, die in jeder Ausgabe in einem anderen Stil und in anderer Schrift gestaltet wurden.
Eine große Auswahl davon hängt im Zwischengeschoss vor der eigentlichen Ausstellung. Im oberen Vorraum kann man auf Fotos die Spuren des Jugendstils im Münchner Stadtbild bewundern: an den Fassaden von Häusern, die auf einem Stadtplan markiert sind. In zehn Kapiteln stellt die Schau seine Ideen vor. Die Gleichstellung der Geschlechter, ein gesundes Leben im Einklang mit der Natur oder die Demokratisierung von Kunst und Gesellschaft.
Wichtig für die Verbreitung des neuen Kunststils war die “VII. Internationale Kunstausstellung” 1897 im Münchner Glaspalast. Die Präsentation von Möbeln, Textilien, Gebrauchsgegenständen, Gemälden und Grafiken wurde ein Publikumserfolg. In Staunen versetzten dort die höchst originellen Stickereien von Hermann Obrist. Sein Wandbehang “Alpenveilchen” (um 1895) wurde wegen der dynamischen Linienführung rasch als “Peitschenhieb” bekannt. Das Initial- und Hauptwerk des Münchner Jugendstils ist erstmals seit langem wieder im Original zu sehen.
Genauso markant gestaltet war das Fassaden-Ornament am Foto-Atelier Elvira, einem wichtigen Ort der Münchner Frauenbewegung. Entworfen von August Endell, ist es als spektakuläre Nachbildung zu sehen. Das Haus gibt es nicht mehr. Diese grünen, abstrakten Formen auf violettem Grund sollten an nichts Konkretes mehr erinnern.
Die Tier- und Pflanzenwelt gilt als wichtigste Inspirationsquelle des Jugendstils. Allerdings wurde diese nicht realistisch dargestellt, sondern stilisiert und zunehmend abstrahiert. So wirkt ein silberner Kerzenleuchter wie das geschwungene Geäst eines Laubbaums; die Enden von Stuhllehnen oder Regalen sehen wie die Schaumkronen von Meereswellen aus.
Wie breitgefächert der Münchner Jugendstil war, beweist eine Aufzählung all der Kostbarkeiten, die der Münchner Designer Bodo Sperlein aufwendig in Szene gesetzt hat: eine ganze Menagerie von Tier-Skulpturen auf Podesten, filigraner Schmuck in Glasvitrinen, edle Gesellschafts- und Abendkleider in Schaufenstern, geschwungene Holzmöbel in perfekt ausgeleuchteten Ecken, ein Ensemble poppig-bunter Glasgefäße, riesige Teppiche, das Monumentalgemälde “Rübezahl auf Reisen”.
Die Künstlerinnen und Künstler schöpften zeitlich und räumlich aus vielen Quellen: Der Vitrinenschrank von Bernhard Pankok ahmt gotisches Strebewerk nach, die “Speerschleudernde Amazone” von Franz von Stuck orientiert sich eindeutig an der klassischen Antike. Märchen, Mythen und Sagen weckten ihr Interesse, generell alles Exotische und Ursprüngliche, aber genauso die Tradition.
Die sogenannte Lebensreform wollte den Alltag grundlegend modernisieren – von korsettfreier Kleidung bis hin zu vegetarischer Ernährung. Das ging so weit, dass künstlerisch gestaltete Möbel und Gebrauchsgegenstände auch für eine breitere Käuferschicht erschwinglich sein sollten. So wurden “Typenmöbel” als Bausatz produziert. Die Module konnten individuell kombiniert werden. Solche Ideen behielten ihre Gültigkeit in Kunst und Design bis heute.
Die spektakuläre Schau wäre nicht möglich, wenn nicht gerade das Münchner Stadtmuseum generalsaniert würde. Denn der Großteil der gezeigten Objekte stammt aus dessen eigenem Bestand, einer Sammlung von internationalem Rang. Doch erst hier, in den kongenial gestalteten Räumen der Kunsthalle, können sie ihre volle Pracht entfalten.