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Mit Stecken und Stab

In biblischen Zeiten war der Beruf des Schäfers hart, aber wichtig. Und heute? Ein Besuch im Moor

Es rauscht im Moor; ein Prasseln und Rascheln, als käme ein Regenschauer langsam näher. Aber die Luft ist trocken. Das Geräusch stammt von rund 500 Schafen, die sich gemächlich fortbewegen und dabei unablässig das Gras des Freistätter Moores abrupfen. Gehen, rupfen, kauen, schlucken, im immer gleichen Rhythmus. Erst als Schäfer Oliver Harmsen sich mit einer ausholenden Handbewegung vor die Herde stellt, bleiben die Tiere stehen; das Rupfen und Schlucken lässt dabei keinen Moment nach.

Nur ein Schaf tanzt aus der Reihe und läuft auf Harmsen zu, der ihm lachend über das Fell fährt. „Die wieder, die Nummer 184 – war ja klar“, ruft er seiner Kollegin Kathrin Müller zu. Schafe, so erklären die beiden später, können durchaus einen eigenen Charakter haben. Gerade die, die mit der Flasche aufgezogen worden sind, suchen häufig die Nähe der Menschen. Irgendwo in der Herde läuft auch „Kakao“ mit, ebenfalls ein Flaschenschaf, das Harmsens Söhne während des Corona-Lockdowns besonders ins Herz geschlossen hatten – „unser Familienschaf“, nennen sie es.

Schafe mit eigenem Charakter: süß bis nervig

„Das kann sogar richtig nervig sein, wenn die Tiere so anhänglich werden, dass man noch nicht mal ungestört in die Büsche gehen kann“, erzählt Harmsen. Am liebsten sind dem Schäfer die Schafe, die er gar nicht kennt, weil sie nicht groß auffallen, weder beim Hüten noch beim Lammen.

Oliver Harmsen ist angestellter Schäfer in der Schäferei Freistatt, einer Einrichtung von „Bethel im Norden“. Zwei große Schafherden, insgesamt 1300 Tiere, dienen dort der Landschaftspflege: Sie helfen, das Gras auf den weiten Moorflächen kurz zu halten und die Bäume, vor allem Birken, durch Verbiss am Wachstum zu hindern.
Zu dem Beruf kam Harmsen auf Umwegen: Pfarrer wollte er einmal werden, „aber das Theologiestudium war dann nichts für mich“. Es folgten Jahre beim Fernsehen, als Casting-Redakteur und Aufnahmeleiter – und schließlich, mit Ende 30, eine Neuorientierung: Umschulung zum „Tierwirt mit Fachrichtung Schäferei“.

Inzwischen ist Oliver Harmsen seit zwölf Jahren als Schäfer tätig. Was er daran schätzt? Die Arbeit mit den Tieren, auch mit den Hütehunden, die er selbst züchtet und ausbildet. Die langen Stunden der Ruhe und Einsamkeit, wenn er mit den Schafen unterwegs ist. Das Leben draußen, in der Natur. Wobei das natürlich auch seine Schattenseiten hat: „Wenn die Leute uns sehen, ist das Wetter meistens gut, und die denken sich: Das ist ja ein toller Job“, erzählt er. „Wenn ich dagegen den ganzen Tag im Regen oder Schnee stehe, kriegt das keiner mit – und da muss ich dann trotzdem durch.“

Reich wird man davon auch nicht. „Als ich alleinstehend war, war das ganz schön knapp mit dem Geld“, sagt Harmsen. Inzwischen ist er verheiratet – mit einer Pfarrerin. Das gibt Anlass zu Wortspielen: „Zwei Hirten in einer Familie – den Spruch hören wir oft.“ Harmsens Frau Kerstin Schiffner ist Pfarrerin in der Dortmunder Elias-Gemeinde. Dort kommt der „echte“ Schäfer mit seiner Herde sogar ab und zu vor. Zum Beispiel in kurzen geistlichen Impulsen auf Youtube, oder auch im Krippenspiel-Video aus dem vergangenen Jahr, wo die Schafherde samt Schäfer einen großen Auftritt hatte.

„Es ist für mich auch immer wieder interessant zu sehen, wie lebensnah in der Bibel von Schafen und Schäfern gesprochen wird“, sagt Harmsen. „Zum Beispiel in Psalm 23, wo vom Stecken und Stab der Schafhirten die Rede ist: Der Stab zum Leiten der Herde, und der Stecken zum Schlagen.“ Der Stab ist bis heute in Gebrauch – auch Oliver Harmsen und Kathrin Müller haben einen dabei. Er dient dazu, den Schafen und den Hunden Zeichen zu geben, den Boden zu prüfen, mit dem gebogenen Haken am Ende Tiere einzufangen, oder sich während der vielen Stunden des Stehens darauf zu stützten.

Schäfer-Romantik? Eher nicht

Allerdings: Gerade dieses friedliche Bild vom müßig herumstehenden Schäfer, der mit mildem Blick in die Ferne schaut, täuscht. Zum Beruf gehört es, die Tiere ständig auf Krankheiten und Verletzungen hin zu beobachten, ihre Sicherheit im Auge zu haben – Schafe ertrinken zum Beispiel in Moortümpeln, ohne einen Laut von sich zu geben –, und beim Weiden auf die richtige Zusammensetzung der Nahrung zu achten. „Wir müssen uns gut auskennen mit den verschiedenen Gräsern“, erklärt Harmsen und deutet auf eine Fläche voller dunkelgrüner stacheliger Halme. „Das zum Beispiel sind Binsen, die haben keine Nährstoffe und werden von den Schafen höchstens als Ballaststoff für die Verdauung gefressen.“ Andere Pflanzen sind bei den Tieren so beliebt, dass sie sich „festfressen“, wie Harmsen sagt – dann müssen sie mit Hilfe der Hütehunde zum Weiterziehen angetrieben werden.

Jetzt, zu Beginn des Herbstes, lässt die Nährstoffmenge in den Pflanzen bereits nach. Die Schafe legen daher längere Strecken zurück, um ausreichend Nahrung zu finden. Ganz frei sind sie dabei nicht, denn die Landschaftsschutzbehörde gibt vor, welche Gebiete wie weit abgeweidet werden müssen, um den Charakter der freien Moorflächen zu erhalten – inzwischen weiß man um den Wert dieser Landschaft für den Klimaschutz. Die Schäferinnen und Schäfer müssen also die Herden dorthin führen, wo diese Pflege gerade nötig ist.

Nachts kommen die Schafe in einen Pferch mit Elektrozaun – der Wölfe wegen, die sich in der Region seit Längerem fest angesiedelt haben. Zusätzlichen Schutz sollen Herdenschutzhunde bieten; nicht zu verwechseln mit den Hütehunden, die die Schafe zusammenhalten und antreiben.

Gerade bewachen die Schutzhunde einen Pferch mit jungen weiblichen Schafen, die noch nicht gedeckt werden sollen. Zu sehen sind die Hunde zunächst nicht; sie halten sich mitten in der Herde auf. Aber auf Harmsens Rufen hin kommen zwei kräftige Tiere angelaufen; ordentliche Brecher, ein ganzes Stück größer als die Schafe, die sie beschützen sollen. „Strecken Sie Ihre Hand besser nicht über den Zaun“, warnt der Schäfer, der seinerseits in den Pferch geklettert ist und die Hund begrüßt. „Die sind darauf trainiert, alles jenseits der Begrenzung zu halten, was hier nicht reingehört.“

Die Schutzhunde haben einen anspruchsvollen Job: Sie umrunden während der Nacht ständig die Herde im Pferch und sollen Wölfe abwehren, die sich auch von zwei Meter hohen Elektrogattern nicht abhalten lassen. In Freistatt funktioniert das ganz gut. Harmsen hat aber auch schon Wölfe erlebt, die sich am hellen Tag an das Ende einer Herde heranmachen, während Schäfer und Hütehunde an der Spitze ziehen.
„Auch bei uns wird ab und zu ein Schaf gerissen“, sagt er ganz nüchtern. Die Entschädigung von 50 Euro, die der Staat den Schäfern zahlt, deckt die Kosten bei Weitem nicht. „Unter Umständen ist die Herde so gestresst, dass sie nicht trächtig werden und uns ein ganzer Jahrgang Lämmer fehlt“, erzählt der Schäfer. „Und der Bürokratie-Aufwand ist so hoch, dass es sich gar nicht lohnt, den Verlust überhaupt zu melden.“

Trotzdem ist Oliver Harmsen davon überzeugt, dass seine Tiere im Freistätter Moor ein richtig gutes Leben führen. „Sie sind draußen und können sich bewegen, sie haben natürliches Futter, und sie haben ihre Herde. Besser kann es ein Schaf eigentlich nicht haben“, sagt er.