Die Neureligion Shincheonji missioniert oft verdeckt – wer dahintersteckt, erfahren die Angesprochenen zunächst nicht. Vor allem in Frankfurt, aber auch im Ruhrgebiet wendet sich die Organisation gezielt an junge Menschen, bietet eine tolle Gemeinschaft – und schneidet sie von anderen sozialen Kontakten ab. Über die Gefahren dieser Strategie sprach Anke von Legat mit Claudia Jetter, Wissenschaftliche Referentin an der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Berlin.
Was ist eine Neureligion und wie unterscheidet sie sich von den klassischen christlichen Konfessionen?
Claudia Jetter: Dafür gibt es mehrere Merkmale. Für christliche Gemeinschaften sind eine Reihe von Glaubensüberzeugungen grundlegend: Der Glaube an die Trinität, also die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist; die Bibel als Gottes Wort; keine charismatischen Führungsgestalten, die ihre eigene Autorität und diverse Sonderlehren über die Bibel stellen. Neureligionen dagegen bezeichnen sich selbst zwar häufig als christlich, unterscheiden sich aber an einigen fundamentalen Punkten: Manche behaupten, dass es über die Bibel hinaus weitere Offenbarungen in Personen oder Schriften gibt. Sie sind synkretistisch, mischen also Elemente aus verschiedenen Religionen oder Weltanschauungen. Einige haben die Trinität komplett aufgelöst und Jesus untergeordnet. Manche sind apokalyptisch ausgerichtet und lehren, dass der Untergang der Welt nah bevorsteht, in dem nur die Anhängerinnen und Anhänger ihrer eigenen Gruppierung gerettet werden.
Und was sind die Besonderheiten von Shincheonji?
Shincheonji ist eine Neureligion, die von dem Südkoreaner Man-Hee Lee gegründet wurde (siehe Kasten). Er behauptet, der Einzige zu sein, der die Bibel mit Vollmacht auslegen kann. Mit der Gründung von Shincheonji hat die Endzeit begonnen. Am Ende wird ein apokalyptischer Endkampf stattfinden, in den alle Menschen verwickelt sein werden – auch die, die einer christlichen Kirche angehören. Nur die Mitglieder von Shincheonji sind bereits Teil der neuen Zeit – daher auch der Name, der übersetzt „Neuer Himmel, neue Erde“ bedeutet.
Mit welcher Strategie wirbt Shincheonji neue Mitglieder?
Da gibt es zwei Ansätze, die recht aggressiv verfolgt werden: Zum einen treten die Mitglieder von Shincheonji gezielt an Menschen heran, die sich neu orientieren und auf der Suche nach Halt sind. Eine ganz typische Strategie ist, dass Studierende an der Universität angesprochen werden, etwa mit der Bitte um Hilfe bei einem Referat oder um die Teilnahme an einer Umfrage. Dann wird zunächst ein persönlicher Kontakt aufgebaut, und dann folgt die Einladung zu einem Bibelkurs. All das passiert, ohne dass sich die Missionierenden als Mitglieder von Shincheonji zu erkennen geben. Erst in den Bibelkursen wird den Angesprochenen allmählich klar, bei welcher Organisation sie jetzt mitmachen.
Und was ist der zweite Ansatz?
Von dem hören wir in der letzten Zeit vermehrt von Pfarrerinnen und Pfarrern: Da treten Tarnorganisationen an Gemeinden heran und laden sie zu Bibelkursen, interreligiösen Festen oder Friedenskonferenzen ein. Vor allem die Feste werden dann medial inszeniert. Auch hier ist nicht sofort zu erkennen, dass Shincheonji dahintersteht. Und wenn die Mitglieder der Gruppe erst einmal Zugang zu Gemeindeveranstaltungen erhalten haben, sprechen sie dort Gemeindeglieder an und versuchen, sie abzuwerben.
Nun könnte man sagen: Jede, jeder kann selbst entscheiden, zu welcher religiösen Gruppe er oder sie gehören möchte. Was ist gefährlich an Shincheonji?
Bedenklich ist vor allem der psychische und soziale Druck, der aufgebaut wird. Die Organisation vereinnahmt die Betroffenen völlig. Es geht los mit der Einladung zu einem Vortrag oder einem Gottesdienst. Dann folgen die Bibelkurse, die an mehreren Abenden in der Woche stattfinden, sowie zusätzlich ein umfangreiches Selbststudium, Gottesdienste und – ganz wichtig – die Zeit, die man für die Missionierung weiterer Personen aufbringen muss. Da bleibt kaum die Möglichkeit, innezuhalten und sich selbst zu fragen, wohin man da eigentlich geraten ist. Kritische Nachfragen werden abgeblockt oder als „teuflisch“ bewertet. Aussteiger berichten außerdem, dass ihnen eine Art geistlicher Begleiter an die Seite gestellt wurde, der gleichzeitig als Aufpasser fungiert, um Kontakte außerhalb der Gruppe zu unterbinden.
Welche Theologie wird in den Bibelkursen verbreitet?
Die Theologie ist stark apokalyptisch ausgerichtet. Alles ist auf Man-Hee Lee zugeschnitten. So wie Jesus das Gesetz Israels erfüllt hat, ist er der Prophet der Endzeit, und nur er ist erleuchtet und kann mit Vollmacht die Bibel auslegen. Nach seiner Lesart ist die Bibel voll von Geheimnissen und Gleichnissen, die immer in Paaren angeordnet sind und (ausschließlich) von ihm entschlüsselt werden können. Um das zu belegen, werden einzelne Stellen aus dem Zusammenhang gerissen und miteinander in Beziehung gesetzt. An diese Lesart wird man in einem dreistufigen Kurssystem langsam herangeführt. Mit welcher Gruppe man es wirklich zu tun hat, erfährt man erst ganz zum Schluss. Zu dem Zeitpunkt ist man dann häufig schon sehr in die Gemeinschaft eingebunden und kann sich nur schwer wieder trennen.
Gibt es besondere Vorschriften für das Leben als Anhänger von Shincheonji?
Auch hier spielt die Zweiteilung der Welt in Gut und Böse die Hauptrolle. Wer zu Shincheonji gehört, ist gerettet, alle anderen sind verloren. Die Außenwelt wird als Bedrohung wahrgenommen, von der man zum Bösen verleitet wird. Darum wird auch gerade neuen Mitgliedern davon abgeraten, anderen von der Gemeinschaft zu erzählen. Die Partnerwahl sollte auch innerhalb der Gruppe stattfinden; dafür werden potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten bereitgestellt. Ganz wichtig ist der Auftrag zur „Dienst am Nächsten“ genannten Mission. Da herrscht ein starker Leistungsdruck.