Der frisch gekürte Bachmann-Preisträger und Kriegsüberlebende Tijan Sila spricht im Interview über eine “Kindheit auf Pause” im besetzten Sarajevo, die heutigen Nachwirkungen des Kriegs und schönes Schimpfen.
Schwer zu sagen, wann die Geschichte eigentlich begann: An dem Tag, an dem die erste Granate fiel, während der Flucht nach Deutschland, oder als die Mutter “verrückt” wurde. Fest steht: Für seinen persönlichen Einblick “Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde” hat Tijan Sila jüngst den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten. Im Interview erzählt der Deutsche bosnischer Abstammung, wie der Bosnienkrieg (1992-95) bis heute das Zusammenleben am Balkan überschattet und welche Nation schöner schimpft.
Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Herr Bachmann-Preisträger, wie geht es Ihnen mit Ihrem neuen Titel?
Tijan Sila: Die ersten zwei Tage danach waren überwältigend, aber langsam setzt sich das Wissen. Ich freue mich, dass ich wieder bei meiner Familie bin; ich habe meine Frau und mein Kind furchtbar vermisst. Jetzt geht es mir gut. Müde bin ich, aber glücklich!
KNA: “Meine Mutter wurde am 12. August 2007 verrückt.” Was hat Sie dazu bewegt, einen so persönlichen Einblick in Ihr Leben aufzuschreiben?
Sila: Ich wollte mit einem Text antreten, der unmittelbar mit meinem Werk zusammenhängt. Mein letztes Buch war “Radio Sarajevo”, ebenfalls ein autobiografisches Buch. Mein nächstes Buch (aus dem der Sieger-Text stammt) setzt dort an, wo das andere aufhört, und erzählt unsere Geschichte als Familie, von Flüchtlingen in Deutschland in den 90er Jahren. Ich wusste, dass es riskant war, mit einem autobiografischen Text anzutreten, nicht nur weil Vorwürfe an den Text dann schmerzhafter sind oder schwerer wiegen, sondern auch weil es nicht allzu üblich ist für den Klagenfurter Wettbewerb.
KNA: Keine Bedenken, etwas so Persönliches mit der Öffentlichkeit zu teilen?
Sila: Nicht nach meinem letzten Buch, wo ich bereits sehr persönlich geschrieben habe und positive Erfahrungen gemacht habe.
KNA: Wann dürfen wir mit dem neuen Buch rechnen?
Sila: Ich denke, vor 2027 wird es nicht erscheinen.
KNA: In “Radio Sarajevo” erzählen Sie über Ihre Kindheit im besetzten Sarajevo. Stimmt das oder würden Sie sagen, dass mit dem Einmarsch der bosnisch-serbischen Armee auch Ihre Kindheit endete?
Sila: Wir waren nach wie vor Kinder in diesem Krieg und versuchten, so gut es geht, zu spielen, glücklich zu sein. Aber wir waren wie kleine, vor sich hin kümmernde Pflanzen in einem viel zu dunklen Zimmer. Meine Kindheit war auf Pause gesetzt. Als wir nach Deutschland kamen, war ich 13 Jahre alt, da ging meine Kindheit plötzlich weiter. Obwohl ich ein Heranwachsender hätte sein sollen, dauerte es noch mit der Pubertät: Ich hatte Kindheit nachzuholen.
KNA: Sie waren zehn, als der Bosnienkrieg losging. Was ist Ihre erste Erinnerung?
Sila: Die ersten Granateneinschläge. Die beschreibe ich auch im Prolog von “Radio Sarajevo”. Ich spielte und plötzlich war da diese Explosion. Ich kletterte auf die Heizung, um aus dem Fenster schauen zu können, und sah diesen schwarzen Rauch über die Straße fließen. Dann ging es richtig los mit dem Bombardement.
KNA: Welche Rolle spielen Kriegstraumatisierungen in Bosnien und Herzegowina heute?
Sila: Ich bin viel zu selten dort. Aber wenn ich mich als Beispiel nehme, meine Freunde und all die Menschen, mit denen ich noch Kontakt habe – diese Erlebnisse bestimmen unser Leben bis heute. Selbst, wenn man die schlimmsten Auswirkungen der Traumata, die Symptome der Belastungsstörung hinter sich hat und einigermaßen genesen ist, bestimmt das Kriegserleben das eigene Denken: Weil man kein Wohlvertrauen hat in die Zivilisation, in die Mitmenschen; weil man ihnen zutraut, dass sie sich innerhalb weniger Wochen auch ganz anders zeigen könnten. So geht es den meisten Bosniern und Bosnierinnen, die diesen Krieg erlebt haben.
KNA: In einem Teil Europas wachsen Kinder heute so auf wie Sie einst. Wie geht es Ihnen mit diesem Gedanken?
Sila: Wenn ich an Kinder in der Ukraine denke, an Kinder in Gaza, oder an all die Kinder, die Opfer der Hamas geworden sind, zieht sich mir alles zusammen. Ich bin selbst Vater geworden vor etwa zwei Jahren. Ich ertrage den Gedanken kaum, dass andere Kinder dasselbe oder noch schlimmeres (als ich) erleben.
KNA: Wie ist das Zusammenleben zwischen Serben, Bosniaken und Kroaten nach den Kriegsgräuel der 90er überhaupt möglich?
Sila: Bosnien ist ja gerade dysfunktional, weil das Zusammenleben nicht funktioniert. Das Dayton-Abkommen (Friedensvertrag 1995) hat das Land nach nationalistischen Trennlinien und Kriegsfronten geteilt, die unabhängig voneinander regiert werden – gegeneinander regiert werden. Das Land ist nach wie vor von Nationalismus und Feindseligkeit bestimmt.
KNA: Mit Christian Schmidt als Hohem UN-Repräsentanten wacht ein Deutscher über den Frieden. Braucht es sein Amt noch?
Sila: Das Amt hat bisher immer wieder im kleineren Positives bewirkt, jedoch nichts grundlegend an den Zuständen geändert. Was aber nicht die Schuld des Amtes ist. Es liegt vor allem an Bosnien-Herzegowina und der Tatsache, dass die Menschen Schutz bei Nationalisten suchen und sich lieber in ihrer eigenen Ethnie verschanzen.
KNA: Ihre Mutter stammt aus einer kroatisch-katholischen Familie, ihr Vater aus einer bosnisch-muslimischen. Welche Rolle spielte Ethnie oder Religion in Ihrer Familie?
Sila: Religion keine. Meine Eltern waren bis zum Kriegsausbruch Atheisten. Mein Vater fand durch den Krieg zum Glauben, meine Mutter blieb Atheistin. Ich selbst wurde atheistisch erzogen. Ethnie spielte keine Rolle: Meine Eltern waren überzeugte Jugoslawen. Das heißt, sie glaubten an dieses multikulturelle Projekt. Für sie ging eine Welt unter, als sie erkannten, dass die meisten Menschen in Jugoslawien das nicht so sahen.
KNA: Sind Sie Deutscher, Bosnier, irgendwas dazwischen?
Sila: Ich würde sagen, dass ich Deutscher mit bosnischen Wurzeln bin. Ich habe die deutsche Staatsbürgerschaft, ich denke und träume auf Deutsch. Natürlich spielt meine Herkunft eine Rolle in meinem Leben, aber sie bestimmt nicht darüber, wer ich bin.
Können Sie sich vorstellen, auch für ein bosnisches Publikum zu schreiben?
Sila: Ne, mein Bosnisch hat aufgehört sich zu entwickeln, als ich 13 Jahre alt war. Es ist wie bei Musikern, die täglich ihr Instrument üben müssen. Mein Bosnisch reicht nicht mal, um eine Fabel zu schreiben.
KNA: Abschließend, ein Element Ihres Buches sind Beschimpfungen und Flüche. Gibt es eine Sprache, die kreativer schimpfen kann als das Bosnische?