Artikel teilen

Mauer des Schweigens

Andacht über den Predigttext zum Sonntag Rogate: Lukas 11, 5-13

thauwald-pictures - Fotolia

Predigttext
5 Und er sprach zu ihnen: Wer unter euch hat einen Freund und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote; 6 denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann, 7 und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. 8 Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf. 9 Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. 10 Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. (…)

Bei den meisten Besuchern hinterlässt der Gang zur Klagemauer einen lange nachwirkenden Eindruck. Denn egal zu welcher Tageszeit man dort ist, an diesen wuchtigen Quadern des Herodianischen Tempels in Jerusalem sind Menschen und beten, Juden vor allem, aber auch andere. Gott wird in keiner Sekunde des Tages in Ruhe gelassen. Die an der Mauer beten, tun es meist als Einzelne, manchmal – wenn zehn gefunden werden – feiern sie spontan nach gemeinsamer Ordnung. Allein ist man an diesem Ort nie.

Viele lesen Psalmen und die überlieferten Worte früherer Generationen. Oft werden Gebete verrichtet, so wie man eine Pflicht tut. Hilft das? Hat es für den Glaubenden Sinn, mit den Worten der Alten zu beten, vielleicht weil die womöglich einen offeneren Zugang zu Gott hatten und um seine Antworten wussten? Einige aber haben kleine Zettel dabei, vielleicht sogar schon mitgebracht, mit ganz eigenen Anliegen, die sie in die Ritzen der Mauer stecken.

Aber die Mauer redet nicht, sie gibt keine Antworten auf die Gebete der Menschen, gleichgültig, ob sie im Zorn dagegen schlagen und sogar Tränen an ihr herunterrinnen, sie bleibt wie sie ist. So ist es auch, wenn Menschen vor ihr jubeln und singen oder vor Freude springen und tanzen. Und doch berichten immer wieder Menschen, dass sie hier die Nähe Gottes gespürt haben und seine Zuwendung, seine Gnade und Liebe.

Diese Erfahrung gibt es für Menschen, die auf Gott hoffen, beim Beten immer wieder. Es ist ein Reden mit dem schweigenden Gott, fast wie mit einer gefühllosen Wand. Die Männer und Frauen, die mit Jesus unterwegs waren, kannten diese Erfahrung ganz sicher auch, und vielleicht sogar Jesus selbst hat sie gemacht, als er im Garten Gethsemane lag oder als er am Kreuz rief: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.

Hat Gott mich vergessen? Übersieht er mich?, fragen immer wieder Menschen in Not und Verzweiflung, wenn ihre Mitternacht nicht enden will.

Die Freunde Jesu baten ihn: Lehre uns beten! Und er lehrte sie das Vaterunser, jenes Gebet, das wir, auch wenn wir allein sind, immer in der Wir-Form sprechen. Sind wir nie ohne die anderen, wenn wir so beten?.

Aber ob Gott uns hört? Ob er mich hört und auf mich eingeht? Die Erfahrung der Mauer haben alle gemacht, und die Angst vor der unerbittlichen, steinernen Gleichgültigkeit kennen viele auch. Auf diese Ungewissheit zielen die Worte nach dem Vaterunser. Da folgt bei Lukas das Gleichnis von dem bittenden Freund. Der ist mitten in der Nacht in misslicher Lage und wagt bei seinem Freund die Unhöflichkeit und bittet. Und die anderen Vergleiche laufen auf dasselbe hinaus: Zwischen Gott und Menschen geht es zu wie unter Freunden und wie in einer Familie. Der Bittende empfängt so oder so, was er braucht.

Bei diesen Beispielen Jesu ist es so, dass etwa der gebetene Freund vorher nicht wissen konnte, in welcher Not sein Nachbar war und was er brauchte. Das ist bei Gott anders. Darüber, was uns nottut, muss Gott nicht informiert werden. Das weiß er, bevor wir ihn bitten. Beim Beten geht es darum, dass wir unsere Not zum Ausdruck bringen. Einem sprechenden Menschen kann geholfen werden, sogar wenn seine Sprache ein Schrei ist und seine Sätze ein stammelndes Flüstern bleiben.
Deswegen ist es auch wichtig, das Beten zu üben, die Rituale des Vor-Gott-Sprechens für sich selbst zu finden. Der Betende wird sich klarer über sich selbst und über das, um was er da eigentlich bittet.

Die Erfahrung der schweigenden Mauer wird wohl immer bleiben, wahrscheinlich auch, weil wir Menschen zu viele Mauern zwischen uns errichtet haben. Aber es ist gut, sich das einzugestehen. Vielleicht weil man dann tiefer erleben kann, welchen Wert Gottes Freundschaft hat und seine Väterlichkeit.