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Maßstab der Menschlichkeit

Es kommt selten vor, dass ein Einzelner zur moralischen Autorität der ganzen Menschheit erhoben wird – zum „Greatest Man in the World“. So betitelte das US-Magazin „Life“ 1947 eine Sonderausgabe über Albert Schweitzer, der vor 50 Jahren starb

Schweitzer ist zweifellos der wirkmächtigste Protestant des 20. Jahrhunderts gewesen. Er hinterließ in drei geisteswissenschaftlichen Disziplinen – Theologie, Philosophie und Musikwissenschaft – monumentale Arbeiten, die bis heute zum Fundament ihres Faches gehören. Er schuf mit seinem Urwaldspital aus dem Nichts ein außergewöhnliches Werk konkreter Nächstenliebe und Menschlichkeit, das seinen Tod bis heute überdauert hat. Und er erhob als Friedensnobelpreisträger allen Anfechtungen zum Trotz seine mahnende Stimme gegenüber den Mächtigen der Welt. „Mr. Wellblech, der 13. Jünger Jesu“, schrieb man auf dem Gipfel seiner Popularität in den frühen 1950er-Jahren.
Louis Albert Schweitzer wird am 14. Januar 1875 in dem oberelsässischen Winzerort Kaysersberg bei Colmar geboren. Die Geburtsurkunde ist in deutscher Sprache ausgestellt, denn das Elsass und Teile Lothringens gehören seit 1871 zum Deutschen Reich. Albert Schweitzers Vater Louis ist Pfarrer der kleinen evangelischen Gemeinde im katholisch geprägten Kaysersberg. Ein halbes Jahr nach Alberts Geburt zieht die Familie ein Tal weiter, nach Günsbach im Münstertal.

Die Glocken bewahren ihn vorm Töten

Albert verbringt mit vier Geschwistern eine glückliche Kindheit, aus der dank seiner später niedergeschriebenen Erinnerungen zahlreiche Anekdoten überliefert sind – etwa die, dass ihm die Dorfbuben es manchmal hinreiben, dass er es als „Pfarrerssöhnle und Herrenbüble“ besser habe als alle anderen. Das gefällt ihm nicht. Oder die Geschichte von der missglückten Vogeljagd: Da hält der einsetzende Klang der Kirchenglocken den achtjährigen Albert davon ab, wie geplant mit der Steinschleuder auf Vögel zu schießen, wozu ihn ein Kamerad verleitet hat. Sein Gewissen ist erleichtert. „Von jenem Tag an habe ich gewagt, mich von der Menschenfurcht zu befreien. Wo meine innerste Überzeugung mit im Spiele war, gab ich jetzt auf die Meinung anderer weniger als vorher“, notiert er später.
Nach dem Abitur legt Albert Schweitzer eine rasante akademisch-kirchliche Karriere hin. Zwischen 1893 und 1905 studiert er an der Universität Straßburg Philosophie und Theologie, promoviert in beiden Fächern, wobei besonders seine theologische Arbeit über die Leben-Jesu-Forschung bis heute Geltung hat; er habilitiert sich in Theologie, arbeitet als Vikar und Privatdozent und wird Direktor des Thomasstifts in Straßburg. Nebenbei studiert er in Paris beim berühmten Orgelmeister Charles-Marie Widor und schreibt seine Bach-Biografie. Das Arbeitspensum, das er bewältigt, ist enorm. Alle Weichen sind gestellt: Aus diesem jungen Mann mit dem buschigen Schnurrbart wird einmal ein prächtiger Pfarrer, ein berühmter Organist oder gar ein hochdekorierter Wissenschaftler.
Doch hinter den Kulissen hat Schweitzer längst die Schwerpunkte verschoben. Nur wenige Menschen wissen davon. Schon im Günsbacher Pfarrhaus hat ihn an einem Sommermorgen des Jahres 1896 bei Vogelgezwitscher der Gedanke überkommen, dass er sein Lebensglück nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen dürfe, „sondern etwas dafür geben müsse“: „Ich war mit mir selber dahin eins, dass ich mich bis zu meinem dreißigsten Lebensjahre für berechtigt halten wollte, der Wissenschaft und der Kunst zu leben, um mich von da an einem unmittelbaren menschlichen Dienen zu weihen.“
1904 sondiert er bei der Pariser Missionsgesellschaft nach einer Tätigkeit als Missionar mit medizinischen Grundkenntnissen, die er noch erwerben wolle. Erst nach weiterer Korrespondenz mit der Gesellschaft und mit seinen Lehrern an der Universität entschließt er sich, das begonnene Medizinstudium zu Ende zu bringen und „nur als Arzt“ nach Afrika fahren zu wollen. Die frommen Missionsfunktionäre sind darüber froh, denn Schweitzers liberale Theologie ist ihnen ein Dorn im Auge – und einen Arzt brauchen sie sowieso dringender.
Im März 1913 beendet Schweitzer seine dritte Promotion, diesmal in Medizin. Das Thema lautet: „Die psychiatrische Beurteilung Jesu“. Nebenher revolutioniert er durch eine Denkschrift den europäischen Orgelbau, veröffentlicht seine deutschsprachige Bach-Biografie und konzertiert an der Orgel.
Nun kommt der tatsächliche Wendepunkt in Schweitzers Leben. Es ist der 21. März 1913, Karfreitag. Schweitzer, seit einem Jahr verheiratet mit der Professorentochter Helene Bresslau, hat die letzten Monate damit verbracht, Arzneimittel, Konserven, Küchenutensilien und chirurgische Geräte zu kaufen, in 70 Kisten zu verpacken und zum Hafen in Bordeaux zu verfrachten.

Drei Doktortitel: Philosophie, Theologie, Medizin

Die Glocken läuten eben den Karfreitag aus, als der Zug nach Colmar in Sicht kommt. Von der Plattform des letzten Wagens blickt das Ehepaar noch einmal wehmütig zurück auf den Günsbacher Kirchturm. Straßburg, Paris, Bordeaux sind die weiteren Stationen. Am 16. April treffen beide in Lambarene ein.
Albert Schweitzer lässt nicht sein gesamtes altes Leben hinter sich. Er wird weiter publizieren, er wird christlich-ethische Vorträge halten und Orgelkonzerte in der ganzen Welt geben. Die Pariser Bachgesellschaft hat ihm ein Tropenklavier gebaut, auf dem er auch in Afrika üben kann.

Ein Hühnerstall wird zum Operationssaal

Doch von nun an steht die Krankenfürsorge in diesem abgelegenen Teil des damaligen Französisch-Äquatorialafrika (seit 1960: Gabun) im Mittelpunkt seines Lebens. Albert Schweitzer, der Urwaldarzt: So kennt ihn die Welt. Schon in den ersten Tagen ist Schweitzers Organisations- und Improvisationstalent gefragt. Weil das zugesagte Behandlungszimmer noch nicht fertig ist, macht er kurzerhand einen ausrangierten Hühnerstall zum Operationsraum. Sein erster einheimischer Gehilfe namens Joseph baut sprachliche Brücken zu den bald in großer Zahl anreisenden Kranken. Dass der gelernte Koch Beschwerden im „Kotelett“ oder im „Filet“ des Patienten lokalisiert, fällt nicht ins Gewicht.
In den ersten neun Monaten in Lambarene behandelt Schweitzer fast 2000 Menschen. Die Schwarzen sind fasziniert von dem neuen „Oganga“ (Fetischmann) aus Europa: Er tötet den Patienten zuerst, entfernt dann die Krankheit und weckt ihn wieder auf, erzählen sie sich. Sie vertrauen ihm. Dass er bis zu seinem Lebensende einen patriarchalischen Führungsstil pflegt, in dem er sich gegenüber den Afrikanern als „größeren Bruder“ definiert, gehört zur spärlichen Kritik an seinem Wirken, die man bisweilen lesen kann. Er ist am Ziel angekommen: „Die Tage gehören dem Helfen im Namen Jesu, dem Kampfe für das Reich Gottes …“
Aber nun kommt den Schweitzers das Weltgeschehen dazwischen. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs werden sie als Deutsche einige Monate unter Hausarrest gestellt. 1917 muss das Ehepaar Lambarene verlassen und wird zunächst in den Pyrenäen, dann in der Provence interniert. 1918, wenige Monate vor Kriegsende, kehren beide zurück nach Straßburg, das bald darauf mit dem ganzen Elsass wieder Teil von Frankreich wird.
Schweitzer könnte das afrikanische Abenteuer abhaken: Er ist hochverschuldet heimgekehrt, seine Frau verträgt das tropische Klima nicht. In Straßburg übernimmt er wieder das Vikariat an St. Nikolai, außerdem eine Assistenzarztstelle an einer örtlichen Hautklinik. Rhena, die einzige Tochter des Ehepaars, wird geboren. Schweitzer hält Vorträge in Schweden und spielt Orgelkonzerte. Sein Buch „Zwischen Wasser und Urwald“ macht ihn schlagartig in ganz Europa bekannt.

Im Kalten Krieg gilt er als verkappter Kommunist

Doch Rückzug kommt für ihn nicht infrage. 1924 reist Albert Schweitzer zum zweiten Mal nach Lambarene – diesmal ohne seine Frau. Er führt nun ein Leben zwischen zwei Kontinenten. In Afrika baut er unermüdlich an neuer Stelle ein größeres Hospital auf, in Europa hält er Vorträge, publiziert Bücher und gibt Konzerte, um das Krankenhaus zu finanzieren. Den Zweiten Weltkrieg erlebt er von Lambarene aus.
Den Gipfel seiner Popularität erlangt er nach 1945. Die Welt hungert nach der Zivilisationskatastrophe des Zweiten Weltkriegs nach Vorbildern, nach Moral und Menschlichkeit. Schweitzer bekommt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen, 1953 dann, rückwirkend, den Friedensnobelpreis. Mit dem Preisgeld baut er ein Lepradorf.
Mit seiner ganzen Autorität warnt Schweitzer 1957 via Radio Oslo die Welt vor den Gefahren der Atomwaffen: „Kommt es zur Einstellung der Atombombenversuche, wäre das die Morgendämmerung einer Hoffnungssonne, nach der unsere arme Menschheit ausschaut.“ Vor allem in den USA, aber auch in Frankreich wird das nicht goutiert. Schweitzer gilt mit seiner Kritik mitten im Kalten Krieg als verkappter Anhänger Moskaus.
Im August 1965 überträgt Schweitzer die Leitung des Spitals an seine Tochter Rhena. Am 4. September hört er auf seinem Grammofon noch das Andante aus Beethovens Fünfter Symphonie, bevor er kurz vor Mitternacht stirbt. Beigesetzt wird er auf dem Friedhof von Lambarene, wo seit 1958 bereits seine Frau begraben liegt. Die Trauergemeinde singt seinen Lieblingschoral: „Ach bleib mit deiner Gnade bei uns, Herr Jesu Christ“.