Eigentlich braucht Marina Dankowski die Noten gar nicht. Sie singt alles auswendig. Höchstens für den Text schaut sie mal in das rote Heft. „Ich finde das gar nicht schwer“, sagt die 17-Jährige vor der Probe des integrativen Chores der diakonischen Stiftung Eben-Ezer bei Lemgo. „Singen macht mir einfach Spaß.“
Marina ist keine Anfängerin im Chor. Die Schülerin, die die Topehlen-Schule der Stiftung besucht und in einer Wohngruppe in Eben-Ezer lebt, hat bereits auf dem Weihnachtsmarkt der Stiftung gesungen und sogar bei einer Opernaufführung mitgewirkt. „Da war ich aufgeregt“, verrät sie.
Gelassen bleiben beim Großauftritt
Das Projekt, das jetzt ansteht, nimmt sie dagegen gelassen. Dabei ist das, was die Sängerinnen und Sänger des Chores mit Stiftungskantorin Anna Ikramova gerade proben, alles andere als Routine: Sie werden sich in den „Chor der 1000 Stimmen“ einreihen, der am 12. März im Gerry-Weber-Stadion in Halle/Westfalen das Musical „Luther“ von Dieter Falk aufführen wird.
Tenor Tim Rode sieht die Herausforderung ebenfalls souverän. Der 22-Jährige, der ebenfalls von der Stiftung betreut wird, singt im Chor, seit er zehn ist und spielt Gitarre, Schlagzeug, Keyboard und, wenn es sein muss, auch mal Flöte. „Luther“ findet er „schon schwierig – aber es wird“.
Die Chorprobe verläuft hoch konzentriert. Kantorin Anna Ikramova probt mehrere Stücke, in denen der Chor kurze Einwürfe zu singen hat – rhythmisch und harmonisch eine Herausforderung. Nach dem Studium der Noten schließt sich jeweils ein Durchgang an, bei dem eine Video-Aufnahme des Musicals auf eine Großleinwand projeziert wird. Auf diese Weise bekommen die Sänger ein Gefühl für das Gesamtwerk. Marina hat dabei schon eine Szene gefunden, die sie besonders beeindruckt: das Bild des kleinen Martin, der vor seinem Vater Angst hat.
Die Idee, bei dem Riesenprojekt mitzumachen, stammt von Stiftungsvorstand Bartold Haase, der die Uraufführung des Musicals in Dortmund gehört hatte. Kantorin Anna Ikramova war anfangs etwas skeptisch, ließ sich dann aber überzeugen: „Ich bekam so viele positive Reaktionen hier in der Stiftung, dass ich gesagt habe: Ja, wir machen das“, erzählt sie.
Mehr als 70 Sängerinnen und Sänger haben sich für ihren Projektchor angemeldet, Menschen zwischen 7 und 70 Jahren, mit und ohne Behinderungen. „Einige unserer Bewohner haben eine so gute musikalische Grundlagenbildung, dass sie im ,normalen‘ Chor dabei sind und Bachkantaten und andere Werke singen“, berichtet Ikramova. Andere beteiligen sich vor allem bei Großprojekten, etwa dem Musical „Saul“ oder der Kinderoper „Brundibar“ – alles Aufführungen, die die Kirchenmusikerin in den vergangenen Jahren realisiert hat.
„Mir ist es wichtig, die Grenzen zwischen Musikern mit und ohne Behinderungen durchlässig zu machen“, erklärt Ikramova. Dafür geht sie individuell auf die jeweiligen Einschränkungen ein: Wer in seiner Stimme unsicher ist, bekommt einen „Singpaten“ zur Seite. Hilfe beim Aufschlagen von Noten oder anderen praktischen Dingen werden von anderen Sängern selbstverständlich mit übernommen. Das ist gerade bei „Luther“ wichtig: „Dafür müssen wir unseren geschützten Bereich hier verlassen. Das ist für manche schon eine Herausforderung“, sagt die Kantorin. Aber eine, die zu meistern ist: Die erste Regionalprobe in einer Schule in Halle, mit Busanreise und Aufteilung in verschiedene Stimmgruppen, lief bereits ohne Probleme.