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“Man kann sich an Bord nicht verstecken”

Eine ordentliche Brise streicht über das Wasser, Wind aus Nordost. Die Wellen auf dem holländischen Ijsselmeer sind an diesem Morgen noch klein, werden unter knallblauem Himmel aber zusehends länger. Immer öfter tauchen Schaumkronen auf – ideale Bedingungen für die Flotte des evangelischen Kirchenkreises Wesermünde, die für eine Woche zu einem Abenteuer im XXL-Format aufgebrochen ist: Mehr als 300 Konfirmandinnen und Konfirmanden segeln in Begleitung eines Teams junger Leute auf 15 historischen Plattbodenschiffen von Lelystad aus über den größten See der Niederlande. Angeleitet werden sie von professionellen Crews. Anpacken inklusive.

„Die Tour führt die Jugendlichen jeden Abend in einen neuen Hafen, raus aus der Komfortzone, weg vom Bildschirm, rein in die reale Welt – und das auf engstem Raum“, sagt Kreisjugenddiakon und Mitinitiator Michael Hinrichs. Allure, Ambiance, Avondrood, Summertime und Friendschap, so heißen einige der Schiffe, ehemals segelnde Frachter, die mit den Jugendlichen unterwegs sind.

Einer der ehrenamtlichen Gruppenleiter ist Niklas Schilling (25), der vor zwölf Jahren selbst als Konfirmand mitgefahren ist und nun auf der Avondrood die Jugendlichen begleitet. Noch bevor der Zweimastklipper ablegt, rufen Skipper Hendrik Reher und er die Jugendlichen zum Briefing zusammen. „Die wichtigste Regel für die Sicherheit: immer eine Hand für das Schiff, eine Hand für dich“, mahnt Schilling.

Und dann geht es los, raus aus dem Hafen von Lelystad. Um das Hauptsegel zu setzen, müssen alle an einem Strang ziehen. Schwere Arbeit. Langsam hebt sich das Tuch am Mast in die Höhe, immer wieder gesichert durch den Skipper. Dann kommt das Vorsegel. „Ziehen, ziehen, ziehen“, fliegen Kommandos über das Deck. Endlich greift der Wind in die Segel. Die Avondrood nimmt Fahrt auf, Kurs Enkhuizen, einmal quer über das Meer. Der Bug schneidet die Wellen, Wasser spritzt an Deck. Der Skipper reckt den Daumen nach oben. „Good Job“, lobt er die Jugendlichen.

Seit 2005 organisiert die evangelische Jugend in der Region Wesermünde zwischen Bremen und Cuxhaven in den Osterferien die Aktion, die unter dem Begriff „Die Flotte“ bundesweit Popularität errungen hat. Das Motto: „Auf zu neuen Welten.“ Der Kirchenkreis war Vorreiter mit dieser Form der erlebnispädagogischen Arbeit. Mittlerweile gehen zahlreiche Gemeinden mit ihren Konfirmandinnen und Konfirmanden auf einen Segeltörn, aber eine so große Aktion wie in Wesermünde gibt es sonst nirgendwo.

„Es geht um Gemeinschaft“, sagt Diakon Hinrichs. Und um Fragen, die die Jugendlichen beschäftigen: „Wer bin ich, woran orientiere ich mich? Wer ist mein Gegenüber, wer ist mein Nächster? Was braucht es, um eine tragfähige zwischenmenschliche Beziehung aufzubauen? Wer sind wir als Gruppe?“

An Bord nehmen Andachten Themen auf, die den Konfis besonders wichtig sind: Freundschaft beispielsweise, auch Liebe und Mobbing. Der Ludwigsburger Theologe und Professor für Gemeindepädagogik Wolfgang Ilg ist überzeugt, dass Projekte wie die Flotte, die sich an der Lebenswelt der Jugendlichen orientieren, eine große Zukunft haben. „Zentral sind dabei für mich aber gar nicht so sehr die Schiffe. Das ist ohne Frage ein tolles Angebot. Entscheidend ist die Intensität des gemeinsamen Erlebens, sind die Menschen, die dabei sind. Das ist wie ein Gewächshaus für Beziehungen.“

Tatsächlich haben sich hier schon Paare gefunden und später geheiratet. Und natürlich gehe es auch um Themen rund um Glauben und Kirche, ergänzt Hinrichs. „Was macht eine christliche Gemeinschaft aus? Wofür müssen wir uns einsetzen als Christen in dieser Welt?“ Auch Probleme wie Heimweh, gesundheitliche Einschränkungen und Konflikte tauchten auf und müssten bearbeitet werden. „Die Leute sind sich ja nicht immer alle grün. Dann geht es darum, wie das zu lösen ist. Man kann sich an Bord eben nicht verstecken.“

Da geht es auch um ganz praktische Dinge: Wer macht viel, wer verpieselt sich häufiger? Sicher, es gibt ein „Flottenkommando“, das schon Monate vorher plant, auf der Tour einen „Flottenrat“ – kurz „Flora“ – und eine „Fleika“, ein Flotten-Einkaufs-Teams. Dazu Seelsorger und Sanitäter. Aber es gibt keine Eltern, die klar Schiff machen. „Das machen wir zusammen“, erklärt Teamer Niklas Schilling. Zum Beispiel beim Gemüseputzen für den Snack, beim Belegen der Sandwiches, Kochen, Putzen, Abwaschen. „Und die Klopapierrollen auf den Haltern wachsen auch nicht von alleine nach“, sagt Hinrichs mit einem Augenzwinkern.

Die Crew der Schiffe nimmt die Jugendlichen immer wieder in die Verantwortung. „Now we must clean up all the ropes“, ruft Skipper Hendrik Reher nach dem Segelsetzen der Gruppe zu: Alle Taue müssen sorgfältig weggepackt werden, um an Deck Stolperfallen zu vermeiden. Reher zeigt, wie es geht, dann sind die Jugendlichen dran: Die Seile werden in Schlaufen gelegt und platzsparend aufgehängt, in Tonnen verstaut, an der Reling festgebunden.

Was die Gruppe vom Skipper und den Teamern lernt: Ordnung ist hier auf dem Schiff wichtig, gelegentlich lebenswichtig. Und wer sich drückt, kommt nicht voran. Tatsächlich gefallen vielen Konfis die Manöver besonders gut, bei denen alle anpacken müssen. Klar, er freue sich darauf, mit Freunden Zeit zu verbringen, sagt Nico, 13 Jahre alt. „Das Beste war aber bisher das Segelsetzen.“ Flynn (12) hofft auf neue Erfahrungen, „und dass niemand über Bord fällt“. Und auch Jule (13) freut sich auf das Segeln in Gemeinschaft. Amely (14) hofft, „dass alle nett zueinander sind“.

Er mache mit den Jugendlichen seit Jahren gute Erfahrungen, bilanziert Sven Timmann, Skipper auf der Ambiance und nautischer Berater der Flotte. „Die wollen alle, da gibt es Achtsamkeit und Toleranz.“ Die Flotte, meint er, sei ein Abbild der Gesellschaft, ein Mikrokosmos mit einer Botschaft für das Leben. „Du kannst hier sehen: Egoismen mögen kurzfristig zum Ziel führen. Aber langfristig kommst du nur gemeinsam voran.“