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Lyrik gegen Sorgen – Warum man mal wieder ein Gedicht lesen sollte

Krankheit, Weltschmerz, Liebeskummer – bei Problemen dieser Art hat bereits Erich Kästner vor fast 90 Jahren das Lesen von Gedichten verordnet. Ein Rezept, das immer noch gilt, sagen Lyrikexperten.

Auf dem Nachttisch liegt das Büchlein, schon ein wenig abgegriffen. Kurz vor dem Einschlafen bietet es Trost, wenn einem das eigene Dasein zu schaffen macht. “Man nehme”, schreibt Erich Kästner im Inhaltsverzeichnis seiner “Lyrischen Hausapotheke”, und zählt die Seiten mit Gedichten auf, die er bei seelischen Zipperlein als probates Gegenmittel empfiehlt – gleich ob es sich um Frühlingsgefühle, die eigene Faulheit, Geldsorgen oder Heimweh handelt.

Seit 25 Jahren findet am 21. März der “Welttag der Poesie” statt, von der Unesco im Jahr 2000 ins Leben gerufen. Er soll “an den Stellenwert der Poesie, an die Vielfalt des Kulturguts Sprache und an die Bedeutung mündlicher Traditionen erinnern”, so die Organisation.

Was ist eigentlich das Besondere an Gedichten? Warum sollte man sie heute noch lesen? Oder gar selbst dichten?

Robert Gernhardt hat die Frage nach dem Sinn von Schreiben von Gedichten einmal so beantwortet: “Es ist wirklich so: Grad wenn man reimt, kommt man in Zusammenhänge, in die man nie kommen wollte, aber der Reim gibt das vor.” Und Kästner sagte zum Lesen von Lyrik: “Es tut wohl, den eignen Kummer von einem andren Menschen formulieren zu lassen.”

Ein Phänomen, das damals wie heute gilt, sagt Frieder von Ammon, Literaturprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. “Gedichte wurden zu allen Zeiten gelesen.” Vor allem seien sie im Alltag seit Jahrtausenden präsent: “Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, dass sie viel mehr mit Lyrik zu tun haben, als sie glauben”, so der Literaturwissenschaftler. “Songtexte etwa sind auch eine Form von Lyrik, sogar eine viel ältere Gedichtform als die, die uns in Büchern begegnet. Davon sind wir tagein und tagaus, nahezu permanent umgeben. Wenn man das mit einberechnet, ist Lyrik alles andere als ein Nischenphänomen.”

Holger Pils, Leiter des Lyrik Kabinetts in München, ist sich sicher, dass Gedichte für viele Menschen auch einen ganz lebenspraktischen Sinn haben: “Sie können Trost und Halt geben – für den Moment oder fürs Leben. Häufig werden Dinge ausgedrückt, die einen ansprechen, weil man sich mit ihnen identifizieren kann. Etwas, das man gesehen oder gefühlt hat, aber sprachlich noch nie so denken konnte.”

Für ihn ist Lyrik kein Relikt aus überkommener Zeit, sondern ein Instrument, das in der Tiefe schürft – auch bei Teenagern und Kindern. In Lyrik-Workshops mit Schülerinnen und Schülern zeige sich oft, dass das Dichten für sie eine geeignete Form des Ausdrucks sei, erzählt Pils. “Viele Jugendliche schleppen ganz schöne Päckchen mit sich herum. In Gedichten drücken sie manchmal Dinge aus, die sie tief bewegen und die sie normalerweise für sich behalten, weil sie zu cool sind, um darüber zu sprechen. Die Lehrer in unseren Workshops sind immer wieder erstaunt, was da ans Licht kommt.”

Es sei schön, Gedichte auswendig zu können und auch schön, wenn sie an Schulen besprochen würden, findet der Wissenschaftler. Allerdings sollte man nicht auf eine kanonische Interpretation pochen und manches im Gedicht auch einfach mal für sich stehen lassen. “Ein Gedicht ist kein Kreuzworträtsel”, so der Experte. Gedichte könnten viel leisten. “Aber das Schöne ist: Sie müssen es nicht.”

Dass auch Künstliche Intelligenz (KI) Gedichte fabrizieren kann, sieht er eher entspannt. “Die KI kann vielleicht die Erwartungen erfüllen, die man landläufig an ein Gedicht hat. Aber die interessanten Gedichte leben ja eigentlich vom Nicht-Erwartbaren. Sie erfüllen kein Muster, reiben sich an Regeln und brechen sie”, so der Literaturwissenschaftler. KI sei “automatisiertes Sprechen und Lyrik eigentlich das Gegenteil – entautomatisiertes Sprechen.”

Ähnlich urteilt Literaturprofessor von Ammon: “Bei Songtexten oder für Opas 80. Geburtstag kann ich mir schon vorstellen, dass die KI da respektable Ergebnisse liefert”, sagt er. “Bei der avancierten Lyrik ist dies allerdings schwieriger – sie lebt von Einfällen, von ungewöhnlichen Bildern, Metaphern und Rhythmen, die nur zustande kommen, wenn die menschliche Kreativität am Werk ist.”

Im Grunde sei ein Gedicht, das von KI kreiert wurde, aber nichts Neues, erklärt er: “Schon in früheren Jahrhunderten hat man das Dichten delegiert an sogenannte Mietpoeten, denen man dafür Geld bezahlt hat, dass sie Gedichte zu bestimmten Anlässen schreiben. Wahrscheinlich wird die KI auch heutzutage bei Liebesgedichten rege genutzt.” Das Besondere an Gedichten sei für ihn, dass sie große Zeiträume überdauern könnten. “Verse, die vor 3.000 Jahren in einem anderen Teil der Welt gedichtet worden sind, können noch heutzutage auf offene Ohren und Herzen stoßen.”

Allerdings seien gereimte Verse – ob in Gedichten oder Songtexten – manchmal auch auf unerfreuliche Weise eingängig. “‘Atemlos durch die Nacht’ – das ist ein Schlager, den ich hasse. Aber der Refrain ist sehr einprägsam formuliert”, gibt von Ammon zu.

Grundsätzlich seien Gedichte thematisch völlig offen. Es gehe dabei aber nicht nur um ernste Themen oder um Weltschmerz, so von Ammon. “Lyrik kann auch sehr viel Spaß machen.”

Wie etwa, um noch einmal Robert Gernhardt zu zitieren, folgende Verse: “Dich will ich loben: Häßliches,/ du hast so was Verlässliches. / Das Schöne schwindet, scheidet, flieht – / fast tut es weh, wenn man es sieht.”