Artikel teilen

Lingener Fabrik will Brennelemente für russische Reaktoren bauen

Für Andreas Sikorski ist es kein Routinetermin. Erstmals muss der Leiter der Abteilung „Atomaufsicht und Strahlenschutz“ im niedersächsischen Umweltministerium am Mittwoch (20. November) einen atomrechtlichen Erörterungstermin moderieren. Es geht dabei um die Erweiterung der nuklearen Brennelementefabrik in Lingen. Die nicht ausgelastete Anlage, die von der Firma „Advanced Nucelar Fuels“ (ANF) – einer Tochter des französischen Atomkonzerns Framatome – betrieben wird und vom deutschen Atomausstieg ausgenommen ist, will ihre Produktpalette erweitern und künftig auch Reaktoren russischer bzw. sowjetischer Bauart mit Brennstäben beliefern.

Dafür braucht es die Lizenz und das Know-How des russischen Atommonopolisten Rosatom. Anfang Dezember 2021, kurz vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, unterzeichneten Framatome und Rosatom in Paris eine entsprechende Vereinbarung. Techniker aus Russland gingen in den vergangenen Monaten bereits in Lingen ein und aus und installierten in einem leerstehenden Möbellager Maschinen, um ihre deutschen Kollegen daran zu schulen. Die Brennelementefabrik selbst hätten die russischen Experten bislang aber nicht betreten, versichert Framatome.

Über die Erweiterung der Fabrik muss das niedersächsische Umweltministerium entscheiden. Bei dem im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren vorgeschriebenen Erörterungstermin in den Lingener Emslandhallen werden Antragsteller und Kritiker unter Sikorskis Leitung über rund 11.000 Einwendungen diskutieren, die Bürger aus Lingen und von außerhalb gegen das Vorhaben erhoben haben. Beide Seiten bieten dabei auch Gutachter und Juristen auf. Je nach Verlauf, wird die Erörterung am 21. und 22. November fortgesetzt.

In ihren schriftlichen Eingaben haben die Einwender vor allem sicherheitspolitische Argumente ins Feld geführt. Der Einstieg von Rosatom in die Nuklearanlage biete Russland alle Möglichkeiten zu Sabotage, Spionage und Desinformation – nicht nur in Lingen und Deutschland, sondern in allen Atomkraftwerken in Europa, die aus dem Emsland beliefert würden.

„Wir fürchten, dass Lingen letztlich zu einer Außenstelle der russischen Atomindustrie wird“, sagt etwa Alexander Vent vom Lingener Bündnis AgiEl – Atomkraftgegner im Emsland. Wer dem russischen Atomkonzern Rosatom Zugang zu Personal und Know-How verschaffe, mache sich langfristig abhängig vom Wohlwollen des Kreml. Infolge der Kooperation werde es zudem eine wachsende Zahl an Urantransporten aus Russland geben. Energie-Unabhängigkeit, so Vent, „sieht anders aus“.

Auch Niedersachsens Umweltminister Christian Meyer (Grüne) hat im Vorfeld deutlich gemacht, dass er den Einstieg von Rosatom in Lingen skeptisch sieht. „Die enge Beteiligung russischer Atomkonzerne an der geplanten Erweiterung der Brennelementefabrik stößt politisch vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und die Rolle des Staatskonzerns Rosatom zurecht auf erhebliche Bedenken“, sagte Meyer schon im Frühjahr. Er teile die Einschätzung, „dass der Einfluss Russlands gerade auf die sensible Atomindustrie in Europa vermindert und nicht ausgebaut werden sollte“.

Framatome hingegen verweist auf ein Gutachten des Verwaltungsrechtlers Wolfgang Ewer. Der kommt zu dem Schluss, dass die Ablehnung des Ausbauantrags verfassungswidrig wäre. „Die Verlagerung der Herstellung der Brennelemente nach Deutschland, die mit der Änderung und dem geänderten Betrieb der Anlage der ANF in Lingen bezweckt wird, würde vielmehr eine Verbesserung der Sicherheitslage mit sich bringen“, schreibt der Jurist.

Mit mehr als 250.000 Mitarbeitenden ist Rosatom ein Zwitter aus Behörde und Staatskonzern. Das direkt dem Kreml unterstellte Konstrukt besteht aus etwa 300 einzelnen Unternehmen und bündelt den gesamten Nuklearsektor Russlands, vom Uranabbau über den AKW-Betrieb bis zu den Atomwaffen. Auch im internationalen Atomgeschäft zählt Rosatom zu den ganz großen Playern. Ende 2021 war jedes sechste AKW weltweit von Russland gebaut, mehr als die Hälfte davon stand in anderen Ländern. Von 20 aktuellen Neubauprojekten Rosatoms liegen sogar 17 außerhalb Russlands.