Artikel teilen

Kulturhauptstadt Chemnitz will sich neu und kreativ präsentieren

Im nächsten Jahr steht Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas im Blickpunkt des Interesses. Nicht zu Unrecht. Sich zu verwandeln und neu zu erfinden, gehört zur Stadtgeschichte. Ein Besuch im früheren Karl-Marx-Stadt.

Ein altes Sprichwort lautet: In Dresden werden die Dinge erfunden, in Chemnitz werden sie hergestellt und in Leipzig werden sie verkauft. Wenn es nach dem Willen der Chemnitzer Stadtpolitiker geht, ist dieses Sprichwort bald Geschichte. Als Kulturhauptstadt Europas 2025 will Ostdeutschlands viertgrößte Stadt nun nachhaltig als Plattform für Macher mit osteuropäischer Mentalität fungieren. Die Stadt habe sich schon oft neu erfunden und ihre Besucher mit dem überrascht, was sie zu bieten habe, sagte Oberbürgermeister Sven Schulze (SPD) bei der offiziellen Präsentation des Programms Ende Oktober.

1953 wurde Chemnitz auf Beschluss der DDR-Regierung in Karl-Marx-Stadt umbenannt. Eine Art Vorzeigemodell des Arbeiter- und Bauernstaates mit vielen Plattenbauten und der protzigen, 13 Meter hohen Karl-Marx-Büste im Zentrum, dem bekanntesten Wahrzeichen der Stadt. Als die DDR 1990 zu Ende ging, wurde Chemnitz wieder Chemnitz. Rund 80.000 Menschen verloren damals ihre Arbeit. Viele, die in der Textilbranche tätig waren, wanderten ab. Andere schulten um. Gerade beim Maschinenbau und in der Automobilindustrie steht Chemnitz samt Region heute wieder gut da.

Doch das Motto für Chemnitz 2025 “C the Unseen” macht deutlich: Es gibt mehr in Chemnitz zu entdecken. Neben den traditionellen Kulturinstitutionen wie Schauspielhaus, Industriemuseum und dem über die Grenzen der Region bekannten Staatlichem Museum für Archäologie (smac) sind es die sogenannten Orte des Aufbruchs. Damit sind brachliegende Industriehallen oder Gewerbehöfe gemeint, die man im Zuge des Kulturhauptstadt-Status flott machen möchte für Start-Ups, Kreativwirtschaft oder Industrie 4.0, wie es im offiziellen Programm heißt.

Einen regelrechten Kult-Status hatten zu DDR-Zeiten die Garagen, die soviel mehr als nur ein Autostellplatz waren – ein Mikrokosmos der besonderen Art. So widmet sich als ein Schwerpunkt im Kulturhauptstadt-Jahr das Kunstprojekt #3000Garagen den rund 30.000 Garagen der Stadt. Es waren soziale Räume, wie Kulturexpertin Jenny Zichner erzählt: “Menschen verbrachten in den Garagenhöfen gemeinsam ihre Freizeit, liehen sich Werkzeug oder tranken Bier.”

Auf dem Gelände der ehemaligen Stadtreinigungs-Anlage in Chemnitz-Sonnenberg entsteht “Die Stadtwirtschaft”, ein “Makerhub”, wie Paul Marcion von der Westsächsischen Gesellschaft für Stadterneuerung erläutert. Kreativschaffende sollen hier Räume mieten und zu großer Form auflaufen. Die ersten Vermietungen sind laut Marcion in Gang. 3-D-gedruckte Karl-Marx-Büsten en miniature gehören zu den ersten kreativen Erzeugnissen. Mit dem früheren Betriebshof der Chemnitzer Verkehrs-AG hat die Stadt ebenfalls große Pläne: Hier entsteht der sogenannte Garagen-Campus. Auf 30.000 Quadratmetern können Kreative hier ihre Visionen umsetzen. Einige Veranstaltungen gab es im ehemaligen Betriebshofs bereits. Darunter auch ein Gottesdienst.

Wer in Chemnitz 2025 Spiritualität sucht, kommt vor allem durch die “Kulturkirche” auf seine Kosten. Sie repräsentiert die ökumenische Zusammenarbeit der christlichen Kirchen in Chemnitz und Umgebung. So führt der Kunst- und Skulpturenweg “Purple Path” der Kulturhauptstadt auch zu einem Netzwerk offener Kirchen, die Rast oder Kunst mit spirituellen Akzenten bieten. “C the Unseen” aus christlicher Perspektive.

Chemnitz, das verbindet man auch mit Rechtsextremismus. Bilder von einer Stadt im Ausnahmezustand gingen im September 2018 nach einem tödlichen Messerangriff auf einen Deutsch-Kubaner um die Welt, als sich tagelang Rechtsextreme aus der ganzen Republik auf den Straßen zusammenrotteten und zu Hetzjagden aufriefen. In Chemnitz lebte auch jahrelang unentdeckt das NSU-Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Auch davor verschließt die Kulturhauptstadt die Augen nicht: Voraussichtlich im Mai soll im ehemaligen Stadtwerkehaus ein NSU-Dokumentationszentrum eröffnen – zur weiteren Aufarbeitung des rechtsextremistischen NSU-Terrors und als Begegnungsstätte.

Das Besondere an Chemnitz als Kulturhauptstadt beschreibt der Programm-Organisator Stefan Schmidtke so: Das Programm werde von den Menschen in der Stadt und der Region gemacht. Das war bei früheren Kulturhauptstädten etwas anders. Die slowenisch-italienische Stadt Nova Gorica/Gorizia, die 2025 ebenfalls Europäische Kulturhauptstadt ist, gilt als Hochburg der Glücksspielindustrie. Vielleicht springt das Glück ja nach Chemnitz über.