Shavei Zion ist ein malerischer Ort an der Mittelmeerküste im Norden Israels. Das Besondere: Er hat schwäbische Wurzeln. Es waren Juden aus Rexingen (Landkreis Freudenstadt), die dort, mitten im Nirgendwo, vor 85 Jahren ihre neue Heimat aufbauten.
Jahrhundertelang hatten Juden und Christen im beschaulichen Rexingen friedlich zusammengelebt. Doch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 änderte sich das. Deshalb entschieden sich 1938 zehn Familien, der württembergischen Heimat den Rücken zu kehren. Juden aus anderen süddeutschen Gemeinden schlossen sich ihnen an. Es war Historikern zufolge die einzige geglückte Gruppenauswanderung einer jüdischen Gemeinde während des Nationalsozialismus.
Die Anfänge in der neuen Heimat waren entbehrungsreich. Die Rexinger Juden mussten bei null beginnen. Sie errichteten Holzbaracken, legten Gemüsebeete an, kauften sich Hühner und Kühe zur Selbstversorgung – und behielten die alte Heimat doch stets im Herzen. So blieb die Umgangssprache in Shavei Zion lange Schwäbisch. Die Protokolle der Dorfversammlungen wurden bis in die 1950er-Jahre auf Deutsch verfasst.
So wie den Rexinger Familien ging es vielen der etwa 70.000 aus Deutschland stammenden Juden, die zwischen 1933 und 1939 ins damals noch unter britischer Mandatsverwaltung stehende Palästina kamen. Sie konservierten ihre Liebe zur alten Heimat nicht nur mithilfe der Sprache. „Sie waren mitunter deutscher als deutsch“, sagt Jakob Eisler vom Archiv der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. „Sie lehnten das Hebräische oft innerlich ab und pflegten ihre Kultur.“ Eisler, selbst Jude, hat sich intensiv mit dem Thema befasst. „Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnung und Disziplin – also die klassischen deutschen Tugenden – waren ihnen ganz wichtig“, sagt er.
Damit machten sie sich nicht nur Freunde. Schnell wurden sie von den Einheimischen als „Jeckes“ verspottet, sogar beschimpft. „Jecke“ komme von den Jacken, die die korrekten Deutschen selbst bei größter Hitze trugen, während die Einheimischen kurzärmelig herumliefen, erklärt Eisler. Der hebräische Begriff „Jecke“ bedeute so viel wie „Sturkopf“.
Die Einheimischen misstrauten den Jeckes. Sie waren vor den Nationalsozialisten geflohen, sprachen aber die Sprache der Täter. „Deutsch war im öffentlichen Leben jahrzehntelang verpönt“, weiß Eisler. „Bis 1985 durfte im Radio keine Musik mit deutschen Texten gespielt werden.“ Vorbehalte habe es auch gegeben, weil die Juden aus Deutschland in den 1930er-Jahren zumeist aus Not kamen, und nicht aus zionistischem Idealismus. Eine typische Frage lautete damals: „Kommst du aus Überzeugung oder aus Deutschland?“
Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Jeckes für die Entwicklung Israels kann man laut Eisler aber kaum hoch genug bewerten. Sie hätten Kultur, Wissenschaft, Musik, Architektur und die Medien maßgeblich geprägt. So sei der erste Dirigent des Philharmonie-Orchesters in Tel Aviv 1936 ein Deutscher gewesen – William Steinberg. Der erste Präsident des Obersten Gerichtshofs in Israel war der aus Königsberg stammende Jude Moses Smoira. Etliche israelische Zeitungen wurden von deutschstämmigen Juden gegründet oder weiterentwickelt – allen voran die Tageszeitung „Haaretz“.
Die Bauhaus-Siedlungen in Tel Aviv, Haifa und Jerusalem sind jeckische Projekte. Entworfen haben sie jüdische Architekten, die in Dessau ausgebildet worden waren. Deutschstämmige Juden waren im jungen Israel an den Universitäten und in der Bankenbranche anzutreffen, sie arbeiteten als Landwirte und Firmengründer. Die Strauss-Group, einer der führenden Lebensmittelhersteller Israels mit weltweit rund 16.000 Angestellten, wurde Ende der 1930er-Jahre von dem aus Ulm stammenden jüdischen Ehepaar Richard und Hilda Strauss gegründet.
Einen der weltweit größten Hersteller von Arzneimitteln – Teva – rief 1935 der deutsche Apotheker Günther Friedländer ins Leben. Und auch einer der reichsten Israelis – Stef Wertheimer – ist „Jecke“. Der aus Kippenheim (Ortenaukreis) stammende Milliardär hat mit Iscar die größte Metallverarbeitungsfirma Israels aufgebaut.
„Die Juden, die einst hier im Südwesten gelebt haben, waren wie so viele Schwaben Tüftler“, sagt Eisler. „Weil sie hier aber nicht bleiben konnten, haben sie ihre Talente eben in Israel eingebracht.“ Für ihn steht fest: „Ohne die Jeckes wäre Israel nicht das, was es heute ist.“ (2366/05.10.2023)