Artikel teilen:

Kulissen des Surrealismus: Hinter den Vorhängen der Magrittes

„Un petit bourgeois“ sei René Magritte gewesen, sagt Chloé Thibault lächelnd: „Oder wie man auf Deutsch sagt: ein Spießer.“ Thibault ist Projektleiterin des René Magritte Museums im ehemaligen Wohnhaus des Künstlers im Brüsseler Stadtteil Jette. Eine private Initiative hat das Leben des Surrealisten in der Rue Esseghem 135 rekonstruiert, wo er 24 Jahre lebte. Fast die Hälfte seiner Bilder, etwa 800 Werke, malte er in dem kleinen Esszimmer seiner Erdgeschosswohnung. Das Aufbegehren der Surrealisten gegen das bürgerliche Leben spiegelt die Wohnsituation aber nicht wider: Von künstlerischer Extravaganz fehlt in der Einrichtung jede Spur.

Brüssel feiert in diesem Jahr den 125. Geburtstag Magrittes, der am 21. November 1898 in Lessines in Wallonien geboren wurde und 1967 in der belgischen Hauptstadt starb. Werke wie „Der Verrat der Bilder“ machten ihn bekannt: Zu sehen ist eine Pfeife und darunter der Satz: „Das ist keine Pfeife“. Zahlreiche Geschichten ranken sich um den Suizid der Mutter, die starb, als der junge René 14 Jahre alt war. Er soll beobachtet haben, wie ihre Leiche aus einem Fluss geborgen wurde, das Gesicht verhüllt von ihrem nassen Nachthemd. Das Trauma, so wurde gemutmaßt, habe später eine Reihe von Werken inspiriert, in denen Protagonisten mit verschleierten Gesichtern auftreten.

Um Kunst zu studieren, zog Magritte nach Brüssel und wandte sich dort, beeindruckt von der Kunst des Italieners Giorgio de Chirico, dem Surrealismus zu. Bald bildete sich um den jungen Maler und den Dichter Paul Nougé eine Gruppe von Surrealisten.

Zentrum der Bewegung, die sich gegen ein bürgerliches Leben wandte und sich dem Fantastischen, Irrationalen und Unbewussten widmete, war damals Paris. Mit Ende 20 zog auch Magritte in die französische Hauptstadt, wo er sich im Kreis der französischen Surrealisten um André Breton bewegte. Nach drei Jahren in Frankreich folgte auf den Bruch mit Breton der Umzug zurück nach Brüssel, wo sich der Maler, mittlerweile 31 Jahre alt, mit seiner Frau Georgette in der Rue Esseghem im Norden der Stadt niederließ. Bis 1954 wohnten die Magrittes unter einfachsten Verhältnissen in Jette.

Fast 40 Jahre später, lange nach Magrittes Tod, entdeckte der Kunstsammler André Garitte das Haus. Es war noch immer im Besitz der ehemaligen Vermieter des mittlerweile weltberühmten Malers. Er erwarb das Gebäude und eröffnete 1999, nach sechs Jahren Renovierungszeit, das erste Magritte Museum Brüssels. Über Jahre hat Garitte Teile des verstreuten Nachlasses erworben und anhand von Bildern und Zeitzeugenberichten die Wohnung der Magrittes mit zahlreichen Originalstücken rekonstruiert. So stehen auch die roten Kleiderschränke wieder im Schlafzimmer, die der Künstler selbst gestaltete und seiner Frau zur Hochzeit schenkte.

Als eine von drei Parteien wohnten die Magrittes hinter dicken Vorhängen im Erdgeschoss. Zahlreiche wiederkehrende Elemente der Bilder lassen sich hier entdecken: Das Fenster, durch das der Künstler den Blick auf fantastische Landschaften freigibt, die Laterne vor dem Haus, die Flügeltüren zum Salon.

„Wie Kulissen in einem Theater hat Magritte die Elemente seiner Umgebung und des täglichen Lebens neu zusammengesetzt“, sagt Chloé Thibault. So gelinge ihm ein Verfremdungseffekt, bei dem die Motive real aussehen, obwohl sie eindeutig nicht in der Realität zu verorten seien. Das Treppenhaus der Rue Esseghem 135 führt auf dem Bild „La lecture défendue“ ins Nichts.

Durch die Wohnung kommt man in einen kleinen Garten, an dessen hinterem Ende sich ein verglastes Studio befindet. Hier arbeitete Magritte als Grafiker, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Gemalt hat er dort nicht, Auftragsarbeiten trennte er streng von seinem künstlerischen Schaffen.

„Der Surrealismus war mehr eine Lebensweise“, erklärt Thibault: „Es war keine Arbeit, also war die Malerei nicht vom Leben getrennt.“ Seine Bilder sind in der Wohnung entstanden. In Magrittes Esszimmer, in das nur wenig Licht fällt, trafen sich auch die belgischen Surrealisten jeden Samstagnachmittag. Viele von ihnen waren Dichter, und so entstanden wohl die meisten Titel für die Bilder des einzigen Malers unter ihnen in gemeinsamen Überlegungen.

Die weltweit größte Sammlung der Werke des Künstlers ist im „Magritte Museum“ zu sehen, das 2009 im Zentrum Brüssels öffnete. Es zählt mit rund 300.000 Besuchern im Jahr zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten der belgischen Hauptstadt. Das Wohnhaus-Museum in Jette hingegen ist weniger zentral, bietet aber einen einzigartigen Einblick in das Leben des Ehepaares Magritte. Im ersten und zweiten Stock sind neben Reproduktionen verschollener Werke auch Briefe, Fotografien und Zeichnungen zu sehen.

1954 war aus dem „petit bourgeois“ Magritte ein bedeutender Künstler geworden. Er kaufte sich ein großbürgerliches Haus im Brüsseler Stadtteil Schaerbeek, wo er bis zu seinem Tod lebte. Auch das Testament, in dem er allen Besitz seiner Frau Georgette vermacht, ist in seinem ehemaligen Wohnhaus zu sehen.