Artikel teilen:

Kriegsende: Landeskirche Hannovers verpatzte den Neuanfang

Nach Kriegesende verpatzte die Landeskirche Hannovers den Neuanfang. Bis zur ehrlichen Aufarbeitung der eigenen Schuld vergingen Jahrzehnte.

Mahnmal: Heute erinnern die Ruinen der Aegidienkirche in Hannover an die Opfer von Krieg und Gewalt während der NS-Herrschaft
Mahnmal: Heute erinnern die Ruinen der Aegidienkirche in Hannover an die Opfer von Krieg und Gewalt während der NS-HerrschaftIMAGO / ecomedia / Robert Fishman

Der Kirchenhistoriker Thomas Kück fällt ein ernüchterndes Urteil, wenn es um die Auswirkungen des Kriegsendes vor 80 Jahren auf die Landeskirche Hannovers geht. „Man machte da weiter, wo man 1933 aufgehört hatte. Ein Entsetzen über die Zeit dazwischen gab es nicht.“ Vielmehr habe man versucht, das kirchliche Leben in einer „Mischung aus geordnetem Chaos und chaotischer Ordnung“ weiterzuführen.

Eine Aufarbeitung der Verstrickung in die NS-Herrschaft sei zunächst ebenso ausgeblieben wie eine kritische Neuorientierung gegenüber dem Staat, bilanziert Kück, der an der Leuphana Universität Lüneburg kirchliche Zeitgeschichte in Niedersachsen lehrt und Vorsitzender der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte ist. So habe der damalige Landesbischof August Marahrens zwar im August 1945 das Unrecht an den Juden als „Schuld auf unserem Wege“ benannt, aber keine Konsequenzen gezogen. Weder sei er zurückgetreten noch habe er sich für die Opfer eingesetzt, sagt der 61-jährige Professor.

Erst der Loccumer Vertrag von 1955 regelte das Verhältnis zum Staat neu

Doch nicht nur der umstrittene Landesbischof, der Mitglied der Bekenntnis-Gemeinschaft war, wie die Bekennende Kirche in Hannover hieß, habe ein „ambivalentes Verhältnis“ zur Nazi-Regierung gehabt. „Es gab in der Kirche ein breites Feld zwischen Anpassung und Widerstand, das nicht mit der Unterscheidung in Deutsche Christen und Bekennender Kirche gleichzusetzen ist.“

Licht in dieses diffuse Bild von Anpassung an das Unrechtsregime, aber auch von einzelnem Widerstand hätte eine „Entnazifizierung“ der Pastorenschaft erbringen sollen, die von der britischen Besatzungsmacht seit 1946 jedoch nur halbherzig durchgeführt worden sei, erzählt Kück. „Nur sechs Pastoren sind aus dem Dienst oder aus dem Amt entfernt und einer in den Wartestand versetzt worden. Das war angesichts von 1460 Verfahren ein mildes Ergebnis, eher eine kollektive Reinwaschung, wie sie in vielen Bereichen der Gesellschaft damals vollzogen wurde.“

Ebenso sei eine kritische Neubestimmung des Verhältnisses zum Staat ausgeblieben. Erst mit dem Loccumer Vertrag von 1955 verstehe sich die Kirche nicht mehr untertänig, sondern partnerschaftlich im Gegenüber zum Staat.

Kirche brauchte 50 Jahre für die Aufarbeitung der eigenen Schuld

Es brauchte weitere Jahrzehnte, bis die Landessynode für eine Zäsur bei der Aufarbeitung der Verstrickung der Kirche in die NS-Herrschaft sorgte. Erst vor 30 Jahren im November 1995 bekannte sie die „Schuld unserer Kirche an den Juden“. „Das war ein großer Schritt. Denn es gab bis dahin nur das Stuttgarter Schuldbekenntnis, an dem die Landeskirche jedoch nur indirekt beteiligt war.“

Daraufhin wurden die Versäumnisse wissenschaftlich erforscht. „Es fehlte an Widerstand. An Bonhoeffer und anderen sehen wir, dass es sehr wohl Handlungsalternativen gegeben hätte. Vielleicht können wir aus dieser Erkenntnis mehr Mut für die Gegenwart schöpfen.“