Die Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff hat die Positionen der Kirchen um Friedensethik und Waffenlieferungen für die Ukraine gelobt. „Das ist ein großer Unterschied zu der Respektlosigkeit und mangelnden Anerkennung von Positionen, die wir in öffentlichen Debatten teilweise erleben: dass man sich wechselseitig als Kriegstreiber oder Traumtänzer abqualifiziert zum Beispiel“, sagte die Leiterin des Peace Research Institute Frankfurt – Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung dem Evangelischen Pressedienst (epd). Anders als viele Kirchenleute sieht sie aber derzeit kaum Chancen für Frieden.
epd: Frau Deitelhoff, die Debatte um Waffenlieferungen für die Ukraine scheint sich im Kreis zu drehen: Man debattiert die Lieferungen eines Waffensystems, es gibt Warnungen, dass Russland dann massiv eskalieren würde, das System wird geliefert, die Eskalation bleibt aus, und beim nächsten Waffensystem geht alles wieder von vorne los. Ist das auch Ihr Eindruck?
Nicole Deitelhoff: Ja. Man sieht hier, dass grundsätzliche Haltungen immer wieder zum Vorschein kommen, die sich auch nicht aufeinander zubewegen. Die einen glauben, dass man durch Waffenlieferungen gegen eine nuklear bewaffnete Macht ein Risiko eingeht, und dass man das vorher dementsprechend sehr bedenken sollte. Die andere Seite hält dagegen, dass wenn man Russland nicht Einhalt gebiete, sei nicht nur die Ukraine als Staat gefährdet, sondern auch die europäische Sicherheit insgesamt.
epd: Und warum bewegen sich beide Seiten nicht aufeinander zu?
Deitelhoff: Weil beide Seiten einen Punkt haben. Auch wenn die bisherige Erfahrung mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin uns sagt, dass er eher nicht zu einem Verzweiflungsschlag ausholen wird, ist das Risiko nicht Null. Letzten Endes geht es darum, wie wir unser Nichtwissen einschätzen, das wir alle haben. Und die möglichen Konsequenzen sind ja enorm, wenn man bedenkt, dass eine Fehleinschätzung einen nuklearen Schlag zur Folge haben könnte. Danach können wir ja nicht einfach sagen: „Okay, verschätzt, Pech gehabt“. Ich selbst glaube, das Risiko ist nicht so massiv, es ist noch kalkulierbar. Aber ich gehöre auch nicht zu denen, die jene verdammen, die auf dieses Risiko hinweisen. Ich bin sehr dankbar für diese Stimmen.
epd: Aber die Ukraine bezahlt dafür mit Blut.
Deitelhoff: Ja, die Ukraine zahlt den höchsten Preis. Das alles führt natürlich dazu, dass notwendige Waffenlieferungen für die Ukraine immer zu spät kommen und zu wenig sind. Unsere Verzögerungen tragen dazu bei, dass dieser Krieg länger dauert und mehr Menschenleben fordert. Aber sie geben uns eben gleichzeitig auch die Zeit, unsere Einschätzungen immer wieder zu überprüfen.
epd: Die warnenden Stimmen kommen zu einem guten Teil auch aus den Kirchen. Spielen die Kirchen also eine fruchtbare Rolle in dieser Debatte?
Deitelhoff: Die Kirchen sind natürlich ein Spiegel der gesellschaftlichen Debatte. Obwohl sie sich sehr schnell sehr klar gegen den russischen Angriffskrieg positioniert haben, ist ihr Streit darüber, was daraus eigentlich folgt, derselbe, der auch in der Gesellschaft geführt wird. Also ob man für die militärische Bearbeitung eines Konflikts einstehen kann oder im Sinne eines grundlegenden Pazifismus auf ein Ende der Gewalt hinarbeiten muss. Es spricht für die Kirchen, dass sie dieser Spiegel sind, dass sie die Pluralität der Gesellschaft so in sich tragen. Mir scheint wichtig, dass sie das nicht verstecken. Und ich erlebe die Art, wie die Kirchen debattieren, als sehr wohltuend. Das ist ein großer Unterschied zu der Respektlosigkeit und mangelnden Anerkennung von Positionen, die wir in öffentlichen Debatten teilweise erleben: dass man sich wechselseitig als Kriegstreiber oder Traumtänzer abqualifiziert zum Beispiel.
epd: Und wie bewerten Sie die Positionen innerhalb der Kirche inhaltlich?
Deitelhoff: Nun ja, ich will ja Leuten wie beispielsweise Margot Käßmann nichts in den Mund legen. Aber ich kann mir vorstellen, dass sie davon ausgeht, dass Putin eigentlich selbst in Bedrängnis ist und nach Auswegen sucht. Demnach müssten wir erst einmal zeigen, dass wir in der Lage sind, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen und ihm damit einen Anlass zu geben, selbst den Krieg zu stoppen. Ich selbst bin sehr skeptisch, dass es so kommen würde. Wenn wir die Waffenhilfe für die Ukraine einstellten, würde Russland vermutlich das ganze Land einnehmen.
Ich glaube also nicht, dass Käßmann hier recht hat. Aber ich bin ihr für ihre Position dankbar, weil sie mir die Gelegenheit gibt, meine eigenen Argumente immer wieder zu überdenken und zu schärfen. Denn dieser Krieg hat uns ja nicht nur rational, sondern auch emotional in seiner Gewalt. Das kann dazu führen, dass wir, wenn wir erst einmal eine Position haben und uns ihrer auch noch wechselseitig versichern, sehr schnell selbstgerecht werden.
epd: Wie könnte denn dann Ihrer Meinung nach eine friedliche Koexistenz mit Russland erreicht werden? Mit einem Russland, das Ihr Kollege Carlo Masala als „Raubtierstaat“ bezeichnet hat?
Deitelhoff: Wenn man sich momentan den russischen Staat anschaut und seine politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten, dann haben wir es mit einem System zu tun, in dem seit Jahren alle, die noch an einer Verständigung interessiert waren, nach und nach entfernt und durch Hardliner ersetzt worden sind. Die Wahrscheinlichkeit, mit diesem Russland ein belastbares Abkommen schließen zu können, halte ich für sehr gering. Worum es jetzt vermutlich geht, ist, dass man die Ukraine so lange militärisch, finanziell und ökonomisch unterstützt, um gegen Russland bestehen zu können, bis man eine Lage erreicht hat, in der man einen Abschluss oder eine Pause der militärischen Handlungen erreichen und danach festigen und absichern kann, auch um Russland vor weiteren Abenteuern abzuschrecken.
epd: Das heißt, ein Abkommen mit Russland ist nichts wert, solange man es nicht dazu zwingen kann, sich daran zu halten?
Deitelhoff: Richtig. Das ist allerdings in fast allen Friedensabkommen so und hat unter anderem auch damit zu tun, dass die Parteien, die ein solches Friedensabkommen aushandeln, das nach Hause bringen und an eine aufgestachelte Bevölkerung verkaufen müssen, die durch das Leid des Kriegs traumatisiert sind und die wenig Neigung hat, Kompromisse einzugehen. Im Falle Russlands kommt hinzu: So wie dessen Regierung über den Westen spricht, über liberale Demokratien, über alles, was nicht konform mit der russischen Vorstellung ist, ist mit ihr keine friedliche Koexistenz so einfach denkbar, ohne zumindest, dass man robuste Sicherheit schafft.
epd: Demnach wäre der effektivste Weg zum Frieden, die Ukraine so weit zu unterstützen, dass sie die russischen Fähigkeiten zum Angriff so weit degradieren kann, dass es nicht mehr gefährlich ist?
Deitelhoff: Das wäre natürlich kein Frieden, der dann direkt wieder zur Versöhnung führt. Das wäre erst einmal ein Ende der Kampfhandlungen. Und dann werden diese beiden Staaten und auch ihre Gesellschaften für lange Zeit voneinander getrennt sein müssen, weil es ein Zusammenleben vermutlich nicht geben kann nach all dem, was in diesem Konflikt passiert ist. Aber ja, ich glaube tatsächlich, dass wir uns auf eine lange militärische Unterstützung der Ukraine einstellen müssen.
epd: Sie nannten ja bereits das gute Beispiel für die Art des Debattierens, das die Kirchen vorgeben und das Einbringen anderer Perspektiven. Was könnten die Kirchen denn noch beitragen, um mit dieser Situation umzugehen?
Deitelhoff: Sie bringen nicht nur die Position des unbedingten Pazifismus in die Debatte und zeigen, dass man über die Haltung in diesem Krieg natürlich streiten, mit guten Gründen unterschiedlicher Meinung sein und deswegen nicht moralisch abqualifiziert werden darf. Fast gerät ein wenig aus dem Blick, dass die Kirchen natürlich auch eine seelsorgerische Funktion haben. Wir brauchen Zuspruch, wir brauchen Trost, wir brauchen ein offenes Ohr in diesem Konflikt, und dafür sind die Kirchen da. Und natürlich geht es auch darum, die Kontakte nicht abreißen zu lassen, so wie die Kirchen den Kontakt zur russisch-orthodoxen Kirche nicht abgebrochen haben. Das sollte übrigens auch die Politik tun. Sie sollte die Hand in Richtung Russland ausgestreckt lassen, und nicht nur mit einer Pistole darin. Die Botschaft an Putin sollte sein: „Wenn du dich umentscheidest, wird das zu deinen Gunsten sein“.