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Kirchenasyl rettet Menschenleben

Bischof Christian Stäblein drängt darauf, afghanische Ortskräfte schnellstmöglich nach Deutschland zu holen. Und er bekräftigt das Kirchenasyl, das im Ausnahmefall Flüchtlingen einen Schutz auf Zeit bietet. Darüber spricht er im Interview mit Dagmar Apel, Landespfarrerin für Integration und Migration, anlässlich des fünfjährigen Bestehens der Flüchtlingskirche.

Bischof Stäblein, zurzeit blicken alle mit großer Sorge in Richtung Afghanistan. Die Taliban haben innerhalb weniger Tage Städte und Regionen eingenommen, zuletzt die Hauptstadt Kabul. Welche Maßnahmen sind jetzt Ihrer Ansicht nach notwendig?

Ich bin tief betroffen über die Ereignisse in Afghanistan. Es ist eine Tragödie und wir tragen hieran politische Verantwortung mit. Wir müssen in dieser ­beängstigenden Situation alles zum Schutz der Menschen tun. Deutsche Staatsbürger*innen werden jetzt evakuiert, aber auch das Schicksal der afghanischen Ortskräfte, die für deutsche ­Einrichtungen gearbeitet haben, und ihrer Familien liegt uns sehr am Herzen, ja wir sind mitverantwortlich. Sie sind bedroht. Die Lage in Afghanistan ­er­fordert es, dass wir sie unbürokratisch und schnellstmöglich nach Deutschland holen. Und der Abschiebestopp von ­Geflüchteten nach Afghanistan ist ein spätes, aber gutes Zeichen, er war überfällig.  

Wann haben Sie selbst das letzte Mal mit einem Flüchtling gesprochen?

Das war ein paar Tage nach der Einweihung des Pilgerzentrums in St. Jacobi in Berlin-Kreuzberg. Eine Familie aus dem Iran hat sich hier taufen lassen. Ich habe großen Respekt vor dem Lebensmut und den Entscheidungen von ­Menschen, die sich in dieser Weise auf den Weg machen. Es kommt öfter vor, dass nach Gottesdiensten oder bei ­meinen Besuchen in den Gemeinden Menschen auf mich zukommen und mir, oft in ganz knapper Form, die Geschichte ihrer Flucht erzählen. 

Bei meinem jüngsten Besuch des ­Kirchenkreises Potsdam war ich beeindruckt von der Arbeit mit Geflüchteten dort. In der Gemeinde am Stern ist das Zentrum einer wichtigen Migrations­arbeit. Das Gespräch hat mich sehr ­berührt und – kleine Anmerkung am Rande – weil einer der Geflüchteten Tischtennismeister in seinem Herkunftsland ist, durfte ich ein paar Bälle wechseln. Es war sehr windig, aber ich hätte auch so keine Chance gehabt. Im Ernst: Es kommt auf das Miteinander, die Integration und die Wertschätzung an. In vielen Kirchenkreisen gibt es dazu eine tolle Arbeit. Ich bin für das Engagement sehr dankbar. 

Das Engagement unserer Gemeinden für Geflüchtete ist eine Konsequenz aus der deutschen Geschichte. Kann die EKBO dieses Engagement langfristig aufrechterhalten? Kritisiert sie damit nicht den Staat? 

Ich halte es aus Gründen der Menschlichkeit und aus christlicher Glaubensüberzeugung für geboten. ­Unsere Geschichte lehrt uns darüber ­hinaus, wie essentiell es ist, dass Länder sich nicht abriegeln und wir für ­Menschen da sind, die aus Krisen heraus zu uns kommen. Das Recht auf Asyl ist ein Grundrecht, das sich aus unserer ­Geschichte heraus noch einmal doppelt begründet. 

Kritisiert die EKBO damit den Staat? Mir ist das Bild, das kirchliche und diakonische Flüchtlingsarbeit „gegen“ den Staat geschieht, fern. Unser Land ist hochengagiert in der Hilfe für Geflüchtete. Ich habe im letzten Jahr die Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt und das Landesamt in Berlin besucht. Ich war jedes Mal beeindruckt, wie engagiert in diesen staatlichen Einrichtungen das Recht auf Asyl realisiert wird. Natürlich gibt es immer Dinge, die noch besser gemacht werden können. 

Wir dürfen nie unkritisch oder allzu zufrieden sein, dazu ist die Herausforderung der Flüchtlingsarbeit viel zu wichtig. Die Migrationsbewegungen werden auf dem Globus ja nicht ab-, sondern zunehmen. Da braucht es eine gute Kooperation von Kirche und Staat – und eine gute Kooperation ist stets auch eine ­kritische. 

Meines Erachtens kann der Staat froh sein, mit den Kirchen Partnerinnen zu haben, die unterstützen und immer wieder den Finger in Wunden legen, in denen unser gesellschaftliches Engagement nicht ausreichend ist. Der flüchtlingspolitische Austausch etwa mit den Vertreterinnen und Vertretern des ­Landes Brandenburg zeigt mir, wie sehr wir an dieser Stelle an einem Strang ­ziehen. Dafür bin ich dankbar. 

In Kirchengemeinden gibt es ein breites Spektrum an Meinungen im Umgang mit Geflüchteten, neben Zustimmung bis hin zur verbaler Ablehnung. Wie sehen Ihre Erfahrungen hier aus?

Vor Ort höre ich meist große Zustimmung. Das will ich erst einmal herausstellen. Es ist nicht so, dass sich Ablehnung und Zustimmung etwa die Waage hielten, überhaupt nicht. Vor Ort ­existiert fast immer ein beeindruckendes Engagement für die Menschen, die kommen. 

Darüber hinaus meine ich, dass ­Kirchengemeinden gute Orte sind, um verschiedene Positionen deutlich zu ­machen. Der christliche Glaube verbindet derart in der Tiefe, dass der Streit um die richtigen Wege in der Gesellschaft und in der Praxis des Glaubens fair und offen miteinander ausgetragen werden kann. Es sind eher die gesamtpolitischen Fragen, die zu Aufruhr führen, zum Beispiel die Frage, ob die EKD ein Schiff ­anheuern sollte, das auf dem Mittelmeer Menschen auf der Flucht rettet. 

Meine Position dazu ist klar: Das Schiff zeigt uns vor allem, dass die Frage der Flüchtlingspolitik in Europa noch nicht gelöst ist. Und solange es keine gute, angemessene, europäische Lösung gibt, dürfen wir keine Ruhe geben. Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt. Hier erweist sich die europäische Kultur. Oder eben – schrecklich das zu sagen – sie geht unter. 

Seit Anfang des Jahres gewährten wieder mehr Gemeinden der EKBO Kirchenasyl für kranke und traumatisierte Geflüchtete. Sind Sie stolz auf diesen zivilen Ungehorsam, den Menschen in unserer Kirche leisten? 

Ich bin froh, dass wir es tun, dass es diese Gemeinden gibt. Im Ausnahmefall kann das auch ziviler Ungehorsam ­bedeuten. Ich bin froh, dass wir in einem Land leben, in dem das kritische Mit­einander möglich ist. Kirchenasyl ist im Sinne unseres demokratischen Staates kein Recht sui generis, es ist vielmehr ein viel älteres Recht, das den Staat auf Notstände hinweist. Im Regelfall und in guter Kooperation ist der Staat darüber froh. Weil es Menschen dient und Menschenleben rettet. 

Wie lange ist ein Mensch ein Flüchtling?

Oh, das ist eine spannende, aber auch schwere Frage. Ab wann ist ein Mensch das nicht mehr? Wenn aus Aufnahme ­Integration geworden ist? Wenn die ­Kinder sich hier zu Hause wissen? Wenn die Sprache zur zweiten Heimat geworden ist? Wenn ein Pass bestätigt, dass der Status ein anderer geworden ist? Wenn der oder die sich selbst nicht mehr so fühlt? Vielleicht ist Letzteres mit das Wichtigste, oft aber auch ein ganz schrecklicher Moment: Wenn Menschen sich lange angekommen fühlen und plötzlich wieder die Abschiebung droht, die im Blick auf die Integration vollkommen absurd ist, manchmal nach Jahren. Das müssen wir unbedingt ändern. 

Wie sieht für Sie zukünftig eine Kirche aus, in der Geflüchtete und Asylbewerber ganz selbstverständlich Heimat finden?

Vieles davon sehe ich in den Kreisen und Gemeinden. Und das Risiko mit Bildern ist ja, dass sie statisch sind, dass sie fixieren. Eine Kirche mit Geflüchteten ist immer in Bewegung, immer auf dem Weg, immer neu bereichert durch Menschen, die dazu kommen. So soll es sein.