Dorothee Sölle (1929–2003) habe ich erstmals als Konfirmand auf der barocken Kanzel einer Berliner Dorfkirche erlebt. Im geblümten Sommerkleid stand die evangelische Theologin dort, wo sonst die wortgewaltigen Männer in den schwarzen Talaren sprachen. Ihre Stimme habe ich noch im Ohr. Und dann denke ich an einen Vortrag in der Münchener Universität, den ich als Student hörte; eingeladen hatte sie keine der beiden Theologischen Fakultäten, sondern die Studierendengemeinde. Da zog Sölle den ganzen Saal mühelos in ihren Bann.
Porträt einer Ikone auf Goldgrund ist es nicht
Konstantin Sacher, Redakteur bei dem evangelischen Magazin „chrismon“, hat eine intellektuelle Biografie über die Theologin geschrieben, und man merkt schon dem Titel eine gewisse Distanz zur Person an: „Dorothee Sölle auf der Spur. Annäherung an eine Ikone des Protestantismus“. Ein Porträt wie eine Ikone auf Goldgrund ist nicht beabsichtigt. Sacher widerlegt beispielsweise die Legende, dass Männer ihre Berufung auf einen deutschen Lehrstuhl verhindert hätten – Dorothee Sölle fühlte sich am Union Theological Seminary in New York, das auch Bonhoeffer zu gewinnen versuchte, einfach besser aufgehoben als in der deutschen Theologie, die sie teils sehr kritisch sah.
Frage nach Faszination Dorothee Sölles bleibt im Buch unbeantwortet
Sacher hält auch ihr umstrittenes Erstlingswerk „Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem ‚Tode Gottes‘“ (1965) für wenig originell; man könnte stattdessen aber auch fragen, ob es viel zu der Popularisierung einer Scheu, in der Theologie vom lebendigen Gott zu reden, beigetragen hat. Ihre politischen Orientierungen, insbesondere die Amerika-Kritik, diskutiert Sacher ebenfalls sehr kritisch; sie sind freilich vielfach Ausdruck des kirchlichen Mainstreams jener Zeit. Warum Dorothee Sölle so viele Menschen fasziniert hat, versteht man nach der Lektüre eher nicht; als kritische Begleitung eigener Faszinationserfahrungen ist dieser Band aber durchaus sehr wertvoll.
Konstantin Sacher, Dorothee Sölle auf der Spur. Annäherung an eine Ikone des Protestantismus, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2023, 168 Seiten, 22 Euro