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Katja Riemann über Geflüchtete und Migrationskrise

Für ihr neues Buch “Zeit der Zäune – Orte der Flucht” (S. Fischer Verlag) hat Katja Riemann Geflüchtetenlager in der ganzen Welt besucht.

“Wir müssen wagen, komplex zu denken”, fordert die Schauspielerin und Unicef-Botschafterin Katja Riemann. Sie ist ein künstlerisches Multitalent: Nach Ausflügen in die Musik, ist sie nun auch als Reiseautorin aktiv. Mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) sprach sie über ihre dabei gesammelten Erfahrungen.

KNA: Frau Riemann, in Ihrem neuen Buch “Zeit der Zäune – Orte der Flucht” dokumentieren Sie, wie Sie drei Jahre lang zu den “Schmerzpunkten der Welt” gereist sind. Sie haben Geflüchtetenlager in Europa besucht, waren im Nordirak, in Nordindien und an der bosnisch-kroatischen Grenze. Warum haben Sie diese Strapazen auf sich genommen?

Riemann: In die humanitäre Arbeit bin ich schon vor langer Zeit durch Unicef hineinkatapultiert worden. Mein Lektor hatte mich nach meinem Buch “Jeder hat. Niemand darf” aus dem Jahr 2020, in dem ich von humanitären Projektreisen berichte, ermutigt, weiterzuschreiben, und ich sagte ihm, ohne wirklich etwas zu wissen, dass ich versuchen möchte, ein Buch über Geflüchtetenlager zu schreiben. Dann begann ich zu recherchieren und heraus kam ein Buch über das Interim.

KNA: Im Mittelpunkt Ihres Buches stehen die Menschen, die sich im sogenannten Interim aufhalten: geflüchtet, aber noch nicht angekommen. Was hat Sie daran fasziniert?

Riemann: Ich glaube, es geht hier nicht um eine “Faszination”, das wäre ja sehr despektierlich, sondern um den Versuch in diesem Buch eine Informationslücke zu schließen, da man sich in der gesellschaftlichen, oft erhitzten Debatte häufig mit dem Ankommen beschäftigt. Ich erzähle von Personen, viele Künstlerinnen darunter, von Ärzten, Traumatologinnen, Filmschaffenden oder Theaterleuten, die gute Ideen entwickelt haben und diese vor Ort realisierten. Wie das Theater, das im Dschungel von Calais gebaut wurde oder die Filmschule, die in Moria gegründet wurde, der Magister-Studiengang für Traumatologie, der in der Universität von Dohuk eingerichtet wurde, um schwer traumatisierte Jesidinnen psychologisch zu begleiten. Der Walk with Amal, der einmal durch ganz Europa ging und an dem über 100 performative Künstlergruppen teilnahmen, das tibetische Stück, das in Nordindien uraufgeführt wurde zum ersten Mal in der Geschichte der Tibeterinnen und Tibeter undsoweiter. Von diesen Geschichten handelt mein Buch und ich spreche mit Expertinnen, Soziologen, Menschenrechtsanwälte, die den Lesenden Dinge erläutern, die erläuternswert sind, um das ganze Bild zu greifen.

KNA: Ein wenig kommen Sie in Ihrem Buch auch auf Fragen der Flüchtlingspolitik zu sprechen.

Riemann: Als ich anfing, mein Buch zu schreiben, gab es 80 Millionen Vertriebene weltweit. Das war ungefähr ein Prozent der Weltbevölkerung. Inzwischen gibt es 103 Millionen vertriebene Menschen. Ungefähr 70-75 Prozent der Vertriebenen sind IDPs, also Internally Displaced Persons – Binnengeflüchtete, Menschen, die innerhalb ihres eigenen Landes fliehen, Beispiel: Burkina Faso. Ungefähr 20 Prozent flüchten in die Anrainerstaaten. Aus Syrien nach Jordanien oder in den Libanon zum Beispiel. Und ungefähr 5 bis vielleicht 10 Prozent, die Zahlen variieren, versucht nach Europa, Amerika oder Australien zu gelangen. Ich glaube, die Zahlen sprechen für sich.

KNA: Sollte die EU mehr Geld für diese Menschen ausgeben? Ihnen das Ankommen erleichtern?

Riemann: Die EU zahlte für den Grenzschutz in Marokko, wo es die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla gibt, im Jahr 2022 rund 140 Millionen Euro. Für eine bereits gesicherte Grenze. Ist eine Stange Geld, würde ich denken, damit kann man eine Menge bewegen.

KNA: Was an Ihrem Buch überrascht, ist die Bedeutung der Kultur in den Camps. Die Menschen drehen Filme, singen, tanzen, schauspielern. Sie selbst haben auch einen Workshop gegeben.

Riemann: Ja, ich habe, sozusagen als Beiprodukt während der Recherche einen Dokumentarfilm über eine Filmschule namens “Refocus Media Labs” auf Lesbos gedreht, deren Studierende als Geflüchtete im Camp Moria leben. Dort wird Photographie, Kamera, Ton, Stoffentwicklung, Schnitt und vieles mehr unterrichtet. Die Studierenden waren es, die, als Moria im Lockdown war, über die Situation im Inneren des Camps berichteten und ihr Material an BBC und CNN und andere internationale Sender gaben. Ich bin mit den beiden Gründern der Schule befreundet und sagte, dass ich einen Workshop in Schauspiel geben würde, und das habe ich dann schließlich auch gemacht.

KNA: Ist Ihnen der Umgang mit Flüchtenden leichtgefallen?

Riemann: Ja, das ist es, und es ist ein bisschen traurig, dass es gefragt wird. Als wären sie ansteckend oder weniger wert. Als bräuchte man eine Bedienungsanleitung. Was ist denn los? Können wir nicht mit Menschen umgehen, die eine andere Sprache sprechen, aus anderen Landschaften kommen, andere Speisen essen und so weiter? Haben wir Angst vor Personen, die vulnerabel sind oder eine Fluchtgeschichte haben? Haben wir Angst vor ihren Erinnerungen und Erlebnissen? Man kann sich das Unbekannte auch bekannt machen, um möglicherweise festzustellen, dass es Überschneidungsmengen geben mag, die zumeist im Humor zu finden sind.

KNA: Sicher erlebt man spannende Geschichten.

Riemann: Ich erzähle Ihnen die Geschichte eines iranischen Animationsfilmers. Er strandete im Dschungel von Calais und kam in den Dome, den das Good Chance Theater aus London dort baute. Zwei Schriftsteller hatten einige Monate dort verbracht und das Theater gegründet und den Dome gebaut, einen Multifunktionsort aus Theater, Kommunikationszentrum, einem Ort für Seminare, wo Kinder malten und Akrobatik unterrichtet wurde und vieles mehr. Einmal die Woche wurde Starwars gezeigt. Der Mann von dem ich hier erzähle, schaffte schließlich die Überfahrt über den Ärmelkanal nach England. Dort stellten die Theaterleute ihm Elton John vor, der jemanden suchte, der das Video für seinen Song “Rocket man” machen würde. Der iranische Animationsfilmer, der eine Fluchtgeschichte hinter sich hatte, aber ein hochtalentierter und versierter Filmschaffender war, erhielt den Job. Sie können sich das Video auf youtube ansehen. Oder die Geschichte einer jungen Frau, mit der wir sprachen und sich herausstellte, dass sie eine ausgebildete Bankerin aus Herat war. Voreingenommenheiten sind diffizil. Und gemein.

KNA: Was haben all diese Erfahrungen mit Ihnen gemacht?

Riemann: Ich bin vermutlich gelassener geworden. Verallgemeinerungen greifen nicht, wir müssen wagen, komplex zu denken, ohne die Antworten vorab bereits zu wissen.

KNA: Zu den Helden Ihres Buches gehören Ärzte, Anwälte, Therapeuten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Auch Jesuiten und Ordensschwestern sind dabei. Wie kam es dazu?

Riemann: Ich wollte nach Marokko an die Zäune, die um Melilla und Ceuta gewickelt sind und suchte dafür ein Projekt, Partnerinnen, von denen ich lernen könnte, die vor Ort sind und mir die Situation und ihr Projekt erläutern. Ich habe eineinhalb Jahre gesucht. Dann kam der Zufall zu Hilfe und eine Psychologin von Misereor verknüpfte mich mit ihrer Partnerorganisation in Nador, das ist in Ostmarokko, unweit Melillas. Die Partner waren Jesuiten. Ich schrieb ihnen, sie schrieben herzlich zurück und luden mich ein. So wohnte ich ein paar Wochen bei Ihnen in der Kirche, es gab dort auch spanische Schwestern. Als ich dort ankam, tat sich eine Tür auf zu 20 Volontären aus ganz Europa. Das war wirklich beeindruckend.

KNA: Kann die Religion bei der Flüchtlingskrise hilfreich sein?

Riemann: Das weiß ich nicht. Und vermutlich müssen wir zwischen Glauben und Religion unterscheiden. Es ist sehr betrüblich, dass im Namen der Religion oder Gottes, soviel Zerstörung angerichtet wurde. Das ist sicherlich nicht der Sinn jedweden spirituellen Denkens.