Verrat – kaum ein anderes Wort klingt so hässlich wie diese sechs Buchstaben. Andere im Stich lassen, ausscheren aus der Gemeinschaft, die eigenen Leute schädigen: Verrat gilt als eine der übelsten Sünden im menschlichen Zusammenleben.
Und doch gibt es Fälle, in denen es das Gewissen geradezu als moralische Pflicht erscheinen lassen mag, Vertrauen zu brechen.
Vertrauen brechen geschieht jeden Tag. Jemand lästert über einen „guten Freund“. Man betrügt die Ehepartnerin beim Seitensprung. Kündigung nach 20 Jahren Dienst am Arbeitsplatz: So hässlich kann sich „Verrat“ anfühlen.
Schon Kinder petzen, ganz instinktiv, um sich einen vermeintlichen Vorteil bei Erwachsenen zu sichern. In Politik und Wirtschaft gehört der Verrat offenbar dazu. Die Barschel-Affäre, die Spionage von Günter Guillaume im Bundeskanzleramt, Weitergabe von Schweizer Bankdaten und nicht zuletzt die Überwachung von Bundesbürgerinnen und -bürgern durch US-amerikanische Geheimdienste – all das sind Schlagworte der jüngeren Vergangenheit.
Bald ist Karfreitag. Das lenkt den Blick auf den Verräter schlechthin: Judas. Seit der Jünger Jesu im Garten Gethsemane seinen Lehrer und Meister an die Tempelpolizei verriet und Jesus damit auf den Weg zur Hinrichtung brachte, ist dieser Name zum Gattungsbegriff geworden. „Du Judas“, das meint: Du übler Verräter.
Allerdings lohnt gerade bei Judas ein genauerer Blick. Üblicherweise steht der im Ruf, Jesus für Geld verraten zu haben. Wer die Geschichte aber aufmerksam liest (ab Matthäus 26,14), dem wird auffallen, dass es Judas gar nicht um die 30 Silberlinge ging. Man kann die Geschichte ganz anders verstehen: Judas wollte nicht länger zusehen, wie Jesus Friede und Gewaltlosigkeit predigte. Er sehnte sich nach Revolution. Nach dem Ende der Unterdrückung durch Besatzer. Mit seinem Verrat wollte Judas den Messias zum Handeln zwingen.
Das misslang. Und Judas bereute bitterlich.
Hier zeigt sich die ganze Spannung des Begriffs. Verrat muss nicht immer aus Eigennutz entstehen. Es gibt auch die Entscheidung des Gewissens. Ob Edward Snowden, Dietrich Bonhoeffer, Chelsea Manning oder auch Judas: So unterschiedlich diese Schicksale sind, in einem Punkt gleichen sie sich. Jemand sieht keine andere Wahl mehr, um eine drohende Katastrophe abzuwenden.
Verräter oder Held. Es kommt auf den Blickwinkel an. Um das zu würdigen, hat sich seit einiger Zeit die Bezeichnung „Whistleblower“ eingebürgert; man spricht dann nicht mehr vom „Verräter“, sondern von jemandem, der in die Pfeife („whistle“) bläst, um zu warnen. In totalitären Regimen mag uns das einleuchten. Aber auch in demokratischen Rechtsstaaten können Dinge so schieflaufen, dass Menschen sie öffentlich machen wollen – zu welchem Preis auch immer.
Das ist mit hohem persönlichen Risiko verbunden, bis hin zur Gefahr für Leib und Leben.
Verräter oder Held? Am Ende wird das jeder selbst verantworten müssen. Vor Gott. Und dem Gewissen. (Siehe auch Seite 12.)
Artikel teilen:
Vor Gott und dem Gewissen
Was ist schlimmer als Verrat? Vielleicht ein quälendes, drängendes Gewissen. Denn manchmal kann der Bruch von Vertraulichkeit als letzter Ausweg erscheinen, Schlimmeres zu verhindern
