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“Jeder schaut gern in eine Flamme”

Am Kopf der langen Fertigungsstraße für Teelichter steht heute Leni. Die junge Frau bringt die Edelstahlformen in Startposition, die dann maschinell mit flüssigem Wachs befüllt werden. Etwas weiter hinten sitzen Maria und ihre Kollegen von der „Licht & Wachs“-Manufaktur der Diakonie Herzogsägmühle. Mit flinken Griffen holen sie die kleinen Wachskörper aus den Formen und versehen sie mit Dochten, bevor sie verpackt werden.

Rund 30 Mitarbeitende hat das Team von Marc Sieling, dem Leiter der Wachsmanufaktur. Es sind ehemalige Obdachlose, Suchtkranke, Menschen mit Behinderung, junge Leute mit Unterstützungsbedarf, die hier bei Radiomusik und lockerer Atmosphäre die altehrwürdige Kerzenproduktion im Pfaffenwinkel am Laufen halten. Denn nachdem die im Jahr 1600 gegründeten „Schongauer Wachswaren“ 1995 ihre Pforten für immer schlossen, übernahm die kleine Manufaktur im Diakoniedorf das Geschäft – und den hohen Anspruch gleich dazu. „Man soll unseren Produkten nicht anmerken, dass sie aus einer sozialen Einrichtung stammen“, sagt Sieling.

Die Deutschen liegen mit knapp drei Kilo beim europäischen Pro-Kopf-Kerzenverbrauch weit vorn, und gerade zur Weihnachtszeit haben Kerzen Konjunktur. Das Sortiment des kleinen Herzogsägmühler Betriebs kann sich sehen lassen: Jeden Tag rollen hier bis zu 8.000 Teelichter aus Paraffin, Raps- oder Bienenwachs vom Band, dazu 300 gegossene Stumpen- und Adventskranzkerzen und 700 Gartenfackeln. Der Outdoorbereich aus Altwachs ist in den letzten Jahren größer geworden: Für Gartenfeste finden sich im Shop neben den Fackeln auch Ofenanzünder, mit Wachs getränkte Klopapierrollen und die „Feiàbixn“, eine XXL-Kerze im nachfüllbaren Edelstahlbehälter.

Damit haucht Sielings Mannschaft jährlich bis zu 50 Tonnen Kerzenresten, gesammelt von den Wertstoffhöfen in und um München sowie von Privatleuten, ein zweites Leben ein. „Wir könnten noch mehr verarbeiten“, sagt der gelernte Schreinermeister, der sich auch über Kleinstspenden freut. „Sogar aus Rügen schickt uns eine Dame ihre Kerzenreste per Umschlag zu – das ist eine tolle Sache.“ Für ihn gehören Kerzen und Feuer vor allem in der dunklen Jahreszeit dazu: „Jeder schaut gern in eine Flamme. Es ist, wie wenn man aufs Meer guckt: Man kann die Seele baumeln lassen.“

Fans haben die Herzogsägmühler Kerzen bis in ferne Länder: Die aufwendig verzierten Oster- oder Taufkerzen von Sielings Kollegen und Wachsbildner Daniel Thurnhofer werden bis nach Amerika oder an die Elfenbeinküste verschickt. In Deutschland gibt es die alufreien Teelichter und Stumpen mit der „Licht & Wachs“-Banderole von Sylt bis zum Bodensee. Abnehmer sind häufig Eine-Welt-Läden, aber auch der Shop der Berliner Tageszeitung „taz“ hat sie im Sortiment. Herzogsägmühler Fackeln wiederum tauchen die Kaltenberger Ritterspiele und den Mittelalter-Weihnachtsmarkt in München ins passende Licht.

Seit einem Jahr fertigen die Wachsspezialisten jetzt schon in der – nach dem Großbrand von 2019 – neugebauten Halle und fahren langsam die Produktion hoch. Für 2025 nimmt das Team Duftkerzen im Glas ins Visier und testet Wachs aus Olivenresten als nachhaltige Alternative zum Paraffin. Bewährtes fortführen und neue Trends ausprobieren ist auch für die Herzogsägmühler Werkstätte wichtig, um am Markt zu bestehen.

Unter den Mitgliedern der Kerzeninnung nimmt sie eine Sonderrolle ein: Die rund acht Tonnen Paraffinwachs, die man in Peiting im Jahr einschmilzt, „verbrauchen die Großen an einem Tag“, sagt Sieling. Dafür fertigen die Mitarbeitenden von Hand, was in Kerzenfabriken Maschinen erledigen. „Die Arbeit in der Werkstatt ist für unsere Leute der Lebensmittelpunkt: Hier bekommt ihr Tag Struktur, sie treffen andere und sind nicht allein“, fasst der Betriebsleiter zusammen.

Gerade in der Vorweihnachtszeit komme bei vielen „wieder hoch, was sie verpasst haben in ihrem Leben, was sie vielleicht durch ihre Sucht aufs Spiel gesetzt haben“, sagt Sieling. Die Gemeinschaft bei „Licht & Wachs“ sei dann ein sicherer Halt. Nur sechs der Werkstatt-Angestellten haben einen Vertrag, alle anderen kommen jeden Tag für zwei bis sechs Stunden freiwillig und für geringen Stundenlohn in die Fertigungshalle – auch jenseits des Rentenalters.

Maria ist erst seit ein paar Wochen dabei. Sie arbeitet jeden Tag vier Stunden bei den Teelichtern. Ihre Kollegen sind schon in die Mittagspause gegangen, doch sie macht noch ein paar Kerzen vom Band fertig, die ihre Kollegin Elfriede ins Lager schafft. Elfriede ist seit vier Jahren Teil des Teams, sie kann hier jeden Job erledigen, „außer vorn an der Maschine, das nicht“, sagt sie energisch. Kerzenlicht ist für die kleine schlanke Frau auch außerhalb der Werkstatt wichtig: „Wenn ich heimkomme, zünde ich erstmal überall Kerzen an – elektrisches Licht nehm ich nur zum Kochen.“ Dann schnappt sie sich einen Karton voll Teelichter und eilt davon. Bald ist Weihnachten. Es gibt noch viel zu tun für das Kerzenteam von Herzogsägmühle. (00/4000/19.12.2024)