Der Tod ihres Sohnes Christian kam für Inge Schwab und ihre Familie innerhalb von Sekunden. Eigentlich begann der Tag an diesem 4. September 1991 ganz normal. Der Achtjährige kam von der Schule nach Hause, aß zu Mittag und machte seine Hausaufgaben. Wie jeden Mittwoch ging er nach draußen zum Bücherbus.
Als die Sirenen eines Krankenwagens aufheulten, brachte Inge Schwab dies nicht mit ihrem Sohn in Verbindung. Bis die schreiende Nachbarin sie auf die Straße holte und sie dort ihren leblosen Jungen, der von einem Lkw überfahren worden war, liegen sah. „So einen Moment vergisst man nie“, sagt sie heute.
Die Zeit heilt nicht alle Wunden
Inzwischen sind fast 30 Jahre seit dem einschneidenden Ereignis vergangen. Ihr Leben, sagt die Heilbronnerin, habe sich dadurch komplett verändert. „Die Zeit heilt eben nicht alle Wunden. So ein Tod hinterlässt etwas, das nicht vergeht.“ Als „Seeleninfarkt“ beschreibt die heute 69-Jährige den Schicksalsschlag, von dem sie und ihre Familie sich nicht so schnell erholten. Vor allem der Jüngste ihrer fünf Kinder, damals sechs Jahre alt, hatte nach dem Tod seines Bruders mit großen Verlustängsten zu kämpfen.
Drei Jahre lang schaffte Inge Schwab es kaum, einkaufen zu gehen und das Haus zu verlassen. Sie trug lange Zeit nur Schwarz. „Als ich das erste Mal wieder eine weiße Bluse anhatte, musste ich weinen.“ Aus ihrem Hauskreis trat sie aus, da sie die dogmatischen Ansätze und Schuldzuweisungen nicht mehr ertrug. Nachbarn und Bekannte wechselten die Straßenseite, weil sie sich zu unsicher und hilflos fühlten, um mit ihrer Trauer umzugehen.
Glaubensbegriffe mit neuer Bedeutung
Inge Schwab fing an, sich intensiv mit ihrem Glauben auseinanderzusetzen. Sie schrieb Gedanken und Erfahrungen auf und begann, sich neuen Ansätzen zu öffnen. Viele Begriffe erhielten beim Studium der Bibel für sie eine neue Bedeutung. Sie machte eine Ausbildung als Trauerrednerin und widmete sich künstlerischen Arbeiten. Dabei entstand ihr „Licht im Kreuz“. Ein Holzkreuz, das sich aus vier Quadraten zusammensetzt, mit Platz für ein Teelicht in der Mitte.
Die Symbolik dieses Kreuzes spielte in ihren Gedanken und bei der Verarbeitung ihres Verlustes eine große Rolle. „Es ist für mich eine sichtbare Botschaft für das Leben und die Auferstehung“, sagt sie. Und: „Jeder Mensch muss sein Kreuz auf sich nehmen.“ Bis dahin hat sie mit der Bedeutung des Kreuzes oft gehadert, als Kind hatte der Sündentod Jesu am Kreuz eher etwas Bedrohliches. „Da habe ich jetzt meine eigene Wahrheit gefunden“, sagt sie.
Gegen Trauer gibt es keine Medizin
Trotz weiterer Schicksalsschläge hat Inge Schwab nie den Halt im Leben verloren. „Man muss die Situation annehmen, um sich damit auseinandersetzen zu können“, sagt sie. „Und irgendwie geht das Leben tatsächlich weiter.“ Viele Menschen erwarteten, dass es mit der Trauer wie mit einer Krankheit sei. „Man nimmt ein paar Tabletten und ist scheinbar geheilt.“ Als „Instant“-Mentalität bezeichnet sie das. „Alles soll immer schnell gehen.“ Doch die Trauer sei ein langer Prozess.
Heute sind es nicht nur schmerzliche, sondern auch berührende Erinnerungen, die sie mit dem Tod von Christian verbindet. So erinnert sich Inge Schwab, wie ihr Junge kurze Zeit vor dem fatalen Unfall im Religionsunterricht sich ein Lied aussuchen durfte. Er wählte das Stück „Mit meinem Gott geh ich zur Ruh und tu in Fried mein Augen zu“ aus. „Ich wollte ihm das ausreden, weil mir das unpassend erschien, aber er hat darauf bestanden“, sagt sie.

Das Buch mit dem Lied lag, als die Eltern nach seinem Tod sein Zimmer betraten, aufgeschlagen auf dem Schreibtisch. Offensichtlich hatte es ihn nachhaltig beschäftigt. Inge Schwab ist sich heute sicher, dass ihr Sohn damals eine Art Vorahnung hatte. „Mein Kind war auf seinen Abschied vorbereitet.“ Bei seiner Beerdigung wurde das Lied von allen gemeinsam gesungen.
Tobias stirbt im Alter von acht Jahren an einer seltenen Autoimmunkrankheit
Auch Johannes Roller hat ein Kind verloren. Vor sechs Jahren ist sein Sohn Tobias im Alter von acht Jahren an einer seltenen Autoimmunkrankheit gestorben. Roller hat die Geschichte seines Sohnes zusammen mit einer Journalistin in einem Buch verarbeitet.
Darin erzählt er von den Jahren der Verzweiflung und des Leidens, aber auch unendlichen Glücks. Von kräftezehrenden Monaten und Grenzerfahrungen, die ihn gleichzeitig haben dankbar und demütig werden lassen und in denen er sich von Gott getragen fühlte. „Tobias hat so viele Herzen berührt“, sagt Roller. „Er war ein unheimlich fröhliches und lebensbejahendes Kind.“
Ein Leben im Krankenhaus
Die Krankheitsgeschichte von Tobias begann schon sehr früh. Dabei schien er zunächst ein normales, gesundes Baby zu sein. Doch bereits im Alter von sechs Monaten bangte seine Familie erstmals um sein Leben, nachdem er an einer lebensbedrohlichen Bronchitis erkrankt war und Nahrung verweigerte. Schon da stand er zwischen Leben und Tod, eine chronische Lungenentzündung sollte ihn sein ganzes Leben begleiten.
Der Verdacht auf Mukoviszidose bestätigte sich zwar nicht, doch nach der abschließenden Diagnose war klar, dass Tobias‘ Leben nicht wie das anderer Jungen in seinem Alter verlaufen würde. Der seltene Immundefekt wurde mit einer Stammzellentransplantation bekämpft; einen großen Teil seiner Lebensjahre musste Tobias im Krankenhaus verbringen.
Unbeschwerte Momente in allem Leid
Wenn Johannes Roller über die Zeit spricht, tauchen bei ihm, trotz all des Leids, vor allem die unbeschwerten Momente vor seinem inneren Auge auf. Die besondere Ausstrahlung, mit der Tobias die Schwestern, Pfleger und Ärzte verzauberte. Sein Humor, der Blick für die schönen Dinge des Lebens, sein Ordnungssinn, die besondere Kreativität, mit der er andere mitriss. „Tobias hatte einen unglaublichen Ideenreichtum und wollte immer selbst etwas gestalten.“ Bilder malte er in strahlenden Farben, die an warme Sonnentage erinnern.
Eine Fotoaufnahme von seinem Sohn beeindruckt Johannes Roller besonders. Sie zeigt Tobias im Botanischen Garten, der Blick ist tief und intensiv, mit dem Zeigefinger deutet er vorsichtig auf eine Blüte. Berühren wollte er sie nicht. „Sonst verbiegt sie sich doch“, meinte er damals.
Viele Familienbilder zeugen von gemeinsamen fröhlichen Erlebnissen – beim Schneemannbauen, im Urlaub an der Nordsee, beim Rasenmähen im Garten. Aber auch Szenen im Krankenhaus sind damit dokumentiert, wo Tobias, trotz zunehmender körperlicher Beeinträchtigung, immer zu Scherzen aufgelegt war. Wenn es ihm richtig schlecht ging, erzählt Johannes Roller, habe er zu ihm gesagt: „Papa, jetzt solltest du beten!“
Bei Johannes Roller überwiegt die Dankbarkeit, dass er, obwohl Tobias Leben vom Tod überschattet wurde, noch viele Lebensjahre mit ihm erleben durfte. „Wir haben so ein komplettes Bild von ihm mit seinem besonderen Charakter, seiner facettenreichen Persönlichkeit kennengelernt“, sagt er. „Wäre er schon als Kleinkind gestorben, wäre das nicht möglich gewesen.“ Und so überwiegen für ihn die wertvollen Stunden, die er „keine Minute“ missen möchte.
Der Glaube gibt Rückhalt
Der große Rückhalt in der Gemeinde durch Bekannte und Freunde hat die Familie durch die schwere Zeit getragen. Aber auch für seinen Glauben ist er dankbar. „Dadurch haben wir es geschafft, alles annehmen zu können. Denn für uns war klar, dass letztlich Gott entscheidet, wann er ihn holen möchte“, sagt er.