Seit fast fünf Monaten sind ganze Ortschaften in der Nähe zum Gazastreifen evakuiert. Die Regierung sähe gern Rückkehrer, aber wie sicher ist es, solange der Krieg noch andauert?
Ein Transparent säumt die südliche Zufahrt nach Sderot. “Kein Zugang”, dann eine durchgestrichene Rakete und “Keine Rückkehr ohne Sicherheit”. Ein paar Meter weiter, über die Hauptstraße gespannt, die Worte “Willkommen zurück”, wenig dahinter das Plakat “Gut, dass ihr zurückgekommen seid”. Besser könnten wenige Quadratmeter Werbefläche das Dilemma im Süden Israels kaum zusammenfassen. Seit kurzem ermutigt die israelische Regierung zur Rückkehr in Orte nahe dem Gazastreifen. Nicht alle Evakuierten sind überzeugt.
Für den Stau an der Stadtgrenze sind weniger die Rückkehrer verantwortlich als vielmehr die Straßensperre für den Protestmarsch der Angehörigen der Geiseln. In Sderot, vor der beim Terror vom 7. Oktober zerstörten Polizeistation, beenden sie ihren ersten Tag auf dem Weg von der Gaza-Grenze nach Jerusalem. Auf den meisten Straßen aber herrscht Leere. Nur am Westende der 30.000-Einwohner-Stadt herrscht Betrieb. Hierher, am für seine Aussicht bekannten Kobi-Hügel, bringen Bus- und Taxifahrer Kriegstouristen: neugierige Ortsfremde, die im Abenddunst die Silhouette von Gaza suchen.
Die Pizzeria Nummer eins im Geschäftszentrum hat bereits seit Dezember wieder geöffnet. So lange ist auch das Personal wieder in der Stadt. Ein Kunde hingegen, ein junger Mann, der nicht namentlich zitiert werden möchte, ist nur auf Besuch. Ob und wann er ganz nach Sderot zurückkommt, wisse er nicht. Pizzeria Nummer zwei, ein paar Häuser weiter, hat gerade erst den Betrieb wiederaufgenommen. Ihre Bedienung ist seit zwei Wochen zurück. Auch sie möchte lieber nicht darüber reden. In der Bäckerei zwischen beiden Restaurants spüren sie erste Veränderungen. In der vergangenen Woche seien mehr und mehr Menschen zurückgekommen, sagt eine Angestellte.
“Die Menschen in Sderot sind stark. Sie sind verwurzelt und haben keine Angst”, sagt Ascher Abitbol. Der Familienvater aus der Siedlung Psagot im besetzten Westjordanland ist über seine Frau mit der südisraelischen Stadt verbunden; die Rückkehr seiner Schwägerin nach fast fünf Monaten Evakuierung ist Grund für seinen Besuch. Man müsse “langsam zurück in die Normalität”. Geht es nach ihm, kehren die Menschen nicht nur rasch in das Grenzgebiet zurück. “Aus ideologischer Überzeugung”, aber auch wegen der Sicherheit brauche es “Siedlungen in Gaza und überall sonst im Land”, sagt Abitbol.
Fest überzeugt: Das sind sie auch in Bnei Netzarim, 60 Kilometer weiter südlich im Grenzdreieck zu Gaza und Ägypten. Rund 900 Menschen leben hier, ehemalige Bewohner des Gusch Katif, jenes Siedlungsblocks im Gazastreifen, den Israel 2005 räumte. Dort sind Tehila (36) und Hodaja (30) aufgewachsen. Heute leben sie in Bnei Netzarim. Sie träumen von der jüdischen Wiederbesiedlung Gazas, einem Transfer der Palästinenser in arabische Länder und davon, dass “das israelische Volk versteht, dass dies unser Land ist”. Ein Sieg gegen die Hamas ohne eine Rückkehr nach Gaza wäre für die beiden Frauen kein Sieg.
“Gusch Katif war unser Land. Es wurde uns von Abraham gegeben”, sagt die vierfache Mutter Hodaja. Jetzt seien dort “Terrornester”. Es habe Pläne der Hamas gegeben, “uns nach Ägypten zu entführen”, sagt Tehila. “Durch Gottes Hilfe” wurden Hamas-Terroristen am 7. Oktober gestoppt, bevor sie Bnei Netzarim erreichen konnten. Hochschwanger mit dem siebten Kind ist Tehila zwei Wochen nach dem Angriff zurückgekehrt. Mit den Kindern, ohne den Mann. Der dient als Reservist in der Armee. “Als ich kam, war quasi keiner hier, aber ich fühlte mich sicher. Anfangs dachte ich, ich bin eine verrückte Mutter. Im Nachhinein weiß ich, dass es gut für uns war.”
Doron Stamker teilt weder den Enthusiasmus Abitbols noch die Hoffnungen der Mütter von Bnei Netzarim. Die Bewohner zu diesem Zeitpunkt zurückzuholen, wäre grundverkehrt, sagt der 50-Jährige aus dem Notfall-Kommando aus Nir Jitzchak. Fünf Tote beklagt der 650-Personen-Kibbuz, Luftlinie drei Kilometer von Gaza. Fünf Geiseln aus Nir Jitzchak sind mittlerweile freigelassen oder befreit worden, doch Stamkers Bruder ist immer noch entführt. “Erst wenn wieder vollständig Ruhe eingekehrt ist”, dürfe man die Menschen zurücklassen, wann immer das sein werde. “Sie haben uns schon zu lange Frieden versprochen.”
Stamkers Schlüssel zum Umgang mit der Situation ist Humor. Als er sich am 7. Oktober vor zwei Hamas-Terroristen wiederfand, habe er gelacht, “vermutlich unter Schock”, und in seinem Kopf nach Worten aus seinem Schularabisch gesucht. Als sich Stunden später eine indische Pflegerin vor den Soldaten fürchtete, die sie evakuieren wollten, habe er, der Indischstämmige, indische Lieder gesungen und Volkstänze vorgeführt – sich “nicht zu schade, bescheuerte Dinge zu tun”.