Mit einem Gottesdienst wird Arend de Vries am Freitag, 27. November, aus einem Amt verabschiedet. Sein Nachfolger wird Oberkirchenrat Ralph Charbonnier (58), der bislang Leiter des Referats für Sozial- und gesellschaftspolitische Fragen im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Hannover war.
Welche Aufgaben hatten Sie als – salopp gesagt – „Cheftheologe“?
Arend de Vries: Die Bezeichnung „Cheftheologe“ mag ich nicht. In theologischen Fragen entscheidet in unserer Kirche nicht einer, das wäre zutiefst unevangelisch. Theologische Meinungsbildung geschieht im Miteinander, im Bischofsrat, im Landeskirchenamt und natürlich in enger Abstimmung mit Experten der jeweiligen Fragestellungen. Meine Aufgabe war es häufig, die entscheidenden Leute zusammenzubringen und das Gespräch zu moderieren.
In der Kirche geht man ja bekanntlich nett miteinander um. Was geschieht, wenn es doch zu theologischem Dissens kommt?
Wenn es zu Konflikten kommt, gibt es im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Das eine ist die Moderation der Diskussion. Das andere ist, auf die Einhaltung des kirchlichen Rechts zu achten. Bei mir wurden keine Türen geknallt und auch keine Teetassen geworfen. Ich glaube, dass ich eine gute Portion Ruhe und Gelassenheit mit ins Amt gebracht habe.
Also abwarten und Tee trinken?
Abwarten ist nicht immer möglich. Aber Tee trinken gehört auf jeden Fall dazu.
Nehmen wir die Sterbehilfe als Beispiel für ein theologisches Thema: Landesbischof Ralf Meister hat sich mit einer mutigen, aber umstrittenen Position an die Öffentlichkeit gewandt. War das richtig?
Es gibt Grundfragen des Lebens, bei denen es nicht „richtig“ oder „falsch“ gibt. Und der assistierte Suizid ist eine solche Frage. Aufgabe der Kirche ist, die Selbstbestimmung des Menschen einerseits und die Achtung vor dem Leben andererseits so in Beziehung zu setzen, dass Menschen Orientierungspunkte für ihre Entscheidungen finden. Und da kann es sein, dass in der evangelischen Kirche verschiedene Positionen nebeneinander stehen.
Hatte Sie der Landesbischof zuvor informiert?
Nein. Der Landesbischof hat seine eigene Sicht der Dinge dargestellt. Und die ist theologisch verantwortet. Und daneben stehen andere, auch theologisch verantwortete Positionen. Wichtig für mich persönlich ist, dass ich als Pastor, als Christ nicht entlassen bin aus meiner Verantwortung, Menschen zu begleiten.
Zieht Sie der Landesbischof bei theologischen Fragen zurate?
Natürlich sind wir beständig über theologische Themen im Gespräch. Wir haben regelmäßige Termine und seit vielen Jahren eine lebhafte Diskussion über elektronische Medien.
Was hat Sie theologisch geprägt?
Ich komme aus einer Gemeinde, die man als sehr fromm bezeichnen kann. Der eigenen Entscheidung für den Glauben an Jesus Christus kam eine große Bedeutung zu. Im Laufe meines theologischen Studiums habe ich dann lernen dürfen, dass es auch andere Sichtweisen auf den Glauben gibt. Karl Barth ist für mich wichtig geworden, vor allen Dingen seine Christologie und seine Weltzugewandtheit: Kirche muss Kirche für die Welt sein.
Martin Luther habe ich erst zum Ende des Studiums für mich entdeckt. Weil er einen sehr realistischen Blick auf den Menschen hat. Im Laufe meines beruflichen Lebens, aber auch persönlich wurde die Erkenntnis Luthers, dass der Mensch Sünder ist und gerecht zugleich, immer wichtiger. Für mich heißt das, mich und was ich tue auszuhalten und zu wissen, dass ich weder meinen eigenen Ansprüchen noch denen anderer gerecht werde.
Jetzt in Frieden aus dem Berufsleben gehen zu können, obwohl mein Tun fragmentarisch war, gehört auch dazu. Das ist tröstlich, weil man sonst auch verzweifeln könnte.
Hannover wurde oft als „alleinseligmachende Kirche“ bezeichnet. Gilt das heute noch?
(schmunzelt) Es mag sein, dass es dieses Bewusstsein gab. Daneben wurde gesagt, dass in der Landeskirche ein „mildes Luthertum“ herrscht. Das war fast ein Synonym für „langweilig“. Ich glaube, dass sich in den zurückliegenden Jahrzehnten viel verändert hat. Ich beobachte viele neue geistliche Aufbrüche und Bewegungen wie „Fresh X“ und „Kirche²“. Unsere neue Kirchenverfassung würdigt das. Ich sehe viele neue Formen der Kommunikation. Auch im Bereich der Kirchenmusik stehen wir in der ersten Reihe der evangelischen Kirchen. Das gilt ebenso für das Fundraising oder für den Klimaschutz.
In der Bevölkerung scheint das nicht anzukommen, oder?
Da sollten wir junge Menschen fragen, die in der Jugendarbeit entscheidende Impulse bekommen haben. Die sagen, „Kirche ist ein geiler Ort“. Oder Menschen, für die Kirchenmusik ein Lebensinhalt geworden ist. Ich glaube, dass unsere Kirche viele Möglichkeiten bietet.
Hannover gilt als hierarchische Kirche. Stimmt das?
Hannover ist sicher keine „Sponti-Kirche“. Ein Beispiel: Der Umgang mit Menschen, die gleichgeschlechtlich lieben, hat in unserer Landeskirche eine lange Geschichte. Wir haben lange gebraucht, ehe Menschen in gleichgeschlechtlicher Beziehung gesegnet und getraut werden konnten. Durch diese Behutsamkeit konnten wir diese Schritte in einem großen Konsens gehen. Dadurch sind wir an diesen Menschen aber auch an vielen Stellen schuldig geworden.
Früher als andere Landeskirchen haben wir die Steuerung und Planung mit Stellenplänen und Finanzhoheit an die Kirchenkreise gegeben. Was in der Gemeinde oder im Kirchenkreis entschieden werden kann, soll auch dort entschieden werden. In der neuen Kirchenverfassung haben wir dieses kirchliche Subsidiaritätsprinzip festgeschrieben.
Welche Tätigkeit in Ihrer Laufbahn hat Ihnen die größte Freude bereitet?
Die Tätigkeit als Pastor in einer Gemeinde lässt sich mit nichts vergleichen. Bei Familien bei Taufen und Beerdigungen präsent zu sein, mit Kindern ein Musical zu proben, das alles zusammen ist eine der schönsten Aufgaben, die wir in unserer Kirche haben.
Worauf freuen Sie sich jetzt?
Viele Pflichten entfallen, und ich kann entscheiden, was ich mache. Ich freue mich, für mein Amt als Prior des Klosters Loccum mehr Zeit zu haben. Ich habe mich auch bereit erklärt, noch zwei Jahre Aufsichtsratsvorsitzender der Dachstiftung der Diakonie zu bleiben. Und ich werde weiterhin gern Gottesdienste gestalten und predigen. Da schlägt mein Herz.
Und ich kann nicht nur zwei, sondern sogar vier Wochen auf meiner Lieblingsinsel Spiekeroog sein und Urlauberseelsorge machen. Alles andere habe ich mir offengehalten. Das wird sich entwickeln.
Sie haben Orgelspiel gelernt. Wie geht es damit weiter?
Da mache ich keine Versprechungen. Aber ich will üben.
WAS: Gottesdienst zum Abschied von Arend de Vries in den Ruhestand
WANN: am Freitag, 27. November, um 13.30 Uhr
WO: in der Marktkirche von Hannover, Hanns-Lilje-Platz 2
Wegen der Pandemie sind nur geladene Gäste zugelassen.