„Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen…“ Dieser überschwängliche Hinweis auf die Allgegenwart Gottes stammt aus einer Gefängniszelle. Er steht auf einem Zettel, den der von den Nationalsozialisten inhaftierte Priester Alfred Delp mit gefesselten Händen schrieb und als Kassiber nach draußen schmuggeln konnte – zwei Monate vor seiner Hinrichtung. Delps starkes Bild von den „Poren der Dinge, aus denen Gott quillt“, wirkt in dieser extrem reduzierten Situation der Gefangenschaft wie ein Ausrufezeichen. Überseht die Dinge um euch herum nicht! Schärft eure Wahrnehmung für Gott mithilfe alltäglicher Dinge und in jeder Situation! Macht das zu eurem Gebet!
Hinter dieser Würdigung der Dinge steht eine lange christliche Tradition, besonders in den Orden. Dabei geht es nicht um das Interpretieren von Gegenständen als magische Glücksbringer oder Schutzobjekte wie Amulette und Talismane. Es geht darum, die Alltagsgegenstände nicht nur oberflächlich zu benutzen, sondern sie auf ihren letzten Grund, den Schöpfer aller Dinge, hin durchsichtig zu machen. In der Regel des Benediktinerordens heißt das: „Alle Geräte und Dinge verweisen auf Gott.“ Alle sind sorgsam zu behandeln, ob „Altargerät oder die Dinge in der Bäckerei, im Vorratsraum, in der Küche oder im Garten“. Jedes noch so kleine Ding kann ein Erinnerungszeichen sein für die heilige Zusammengehörigkeit aller Erscheinungen in dieser Welt.
Wer achtsam mit den Dingen kommuniziert, lernt, durch sie hindurch die verborgene Ganzheit des Lebens wahrzunehmen. Alles ist mit allem verbunden und auf wechselseitige Rücksicht angewiesen. Das wiederum lehrt ethische Standards wie Sorgfalt oder den maßvollen Umgang mit den gemeinsamen Ressourcen.
Auch bei einem so intellektuellen Mystiker wie Meister Eckart geht es bodenständig zu: „Wer Gott beim Stallmisten nicht hat, der hat ihn auch nicht beim Chorgebet.“ Man richtet sich auf Gott aus bei allem, was man tut. „Der Mensch soll Gott in allen Dingen ergreifen und soll sein Gemüt daran gewöhnen, Gott allzeit gegenwärtig zu haben im Gemüt und im Streben und in der Liebe.“ Wer so die gewöhnlichen Dinge mit dem Herzen aufschließt, sagt Meister Eckart, kommt zu der Gewissheit: „Gott leuchtet in allen Dingen.“
Heute ist diese mystische Sensibilität für die symbolische Tiefe, die sich in den Dingen auftut, bei vielen Christen verschwunden. Erhalten blieb sie bei den Dichtern. Rainer Maria Rilke begegnete den Dingen „wie ein Bruder“ und lauschte auf den gemeinsamen Zusammenklang: „Meine Welt beginnt bei den Dingen … Es gibt kein Ding, darin ich mich nicht finde. Nicht meine Stimme singt allein, es klingt …“.
Das Lutherjahr wäre eine gute Gelegenheit, mithilfe von Martin Luther, dem früheren Augustinermönch, das Hineinlauschen in die Dinge wieder zu üben. In einer Predigt hat er es Handwerkern als Bibel des Alltags empfohlen: „Bist du ein Handwerker, so findest du die Bibel in deine Werkstatt, in deine Hand, in dein Herz gelegt. Hier lehrt sie dich und predigt dir in deinem Alltag vor, wie du deinem Nächsten gegenüber handeln sollst. Dazu brauchst du nur dein Handwerkszeug, deine Nadel, deinen Fingerhut, dein Bierfass, deine Waren, deine Waage, dein Maßband und deinen Meterstab anzusehen. Auf allen steht der Spruch geschrieben: Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“
Für Luther ziehen uns die Dinge nicht nur nach innen zum Gottesgrund. Sie sind auch ethische Wegweiser im praktischen Leben. Sie predigen die Goldene Regel nach Matthäus 7, 12, einen in vielen Kulturen verankerten Verhaltenskodex zum fairen Umgang mit anderen. Diese Ethik der Nächstenliebe lässt sich in vier konzentrischen Kreisen umsetzen: Familie, Freunde, Fremde, denen man begegnet, und schließlich Fernste, die man nie kennenlernt. Jeder neue Kreis reduziert die Egozentrik und stiftet mehr Verbundenheit mit allem, was Nicht-Ich ist. Je größer der Radius, desto weiter wird das Herz, desto wacher das Gewissen gegenüber den Rechten und Bedürfnissen anderer. Das Einfühlungsvermögen wächst, die praktische Fürsorge wird umfassender, die Verbundenheit aller mit allem deutlich.
Der Entfaltungsprozess von der Nächstenliebe zur Fernstenliebe fördert unsere moralische Intuition und Integrität. In Zeiten von Fake News, Reisesperren, Hasstiraden und aggressiver Abschottung ein dringend notwendiges Gegenprogramm, zu dem uns die einfachen Dinge des Alltags anleiten können. Sie warten nur darauf, ihre „Poren“ öffnen zu können, damit Gottes Menschenfreundlichkeit hervorquellen kann.
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Im Stallmisten wie im Chorgebet
Es sind die kleinen Dinge des Lebens, die uns auf Gott verweisen. Wer achtsam mit den Dingen umgeht, lernt, durch sie hindurch die verborgene Ganzheit des Lebens wahrzunehmen. Diese Achtsamkeit lässt sich einüben
