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“Ich freue mich auf den Aha-Effekt”

Die Namen der Künstler sind weltbekannt. Aber es gibt auch verborgene Geschichten, die ihr Leben und ihre Arbeit geprägt haben – und von denen kaum jemand etwas weiß: Francisco de Goya beispielsweise, auch Mary Cassatt, Edgar Degas, Henri de Toulouse-Lautrec, Vincent van Gogh, Lovis Corinth und Henri Matisse – sie alle haben berühmte Werke geschaffen, das verbindet sie. Und auch, dass sie alle eine Behinderung hatten. Eine Perspektive, die die Bremer Kunsthalle jetzt mit einer ungewöhnlichen und für das Haus erstmals komplett inklusiven Ausstellung einnimmt.

„Kunst fühlen. Wir. Alle. Zusammen“ heißt die Schau, die das Museum ab Samstag und bis zum 7. September präsentiert: 130 Werke, darunter Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen, Druckgrafiken, Fotografien und Videos, zeitgenössische Arbeiten und auch ältere. „Zwei Jahre Vorbereitungen, für die eigens eine inklusive Projektgruppe gegründet wurde“, sagt Kunsthallen-Direktor Christoph Grunenberg am Freitag mit einer Prise Stolz in der Stimme.

Einer, der sich in der Gruppe engagiert, ist Joachim Steinbrück, selbst blind und lange Zeit Behindertenbeauftragter des Landes Bremen. Ihn fasziniert unter anderem Van Goghs „Mohnfeld“, das während eines Aufenthaltes in einer psychiatrischen Einrichtung entstand. „Bei seinen täglichen Spaziergängen blickte er auf das Feld und hielt es malerisch fest“, erzählt Steinbrück und betont, das Bild stehe im Zusammenhang mit der Beeinträchtigung des Künstlers. „Gerade solche Werke zeigen, wie aus persönlichen Lebensumständen ganz eigene Ausdrucksformen entstehen, vielleicht auch aus einer inneren Notwendigkeit heraus, mit der eigenen Beeinträchtigung kreativ umzugehen.“

Vincent van Gogh hörte Stimmen und hatte Angstzustände. Francisco de Goya wurde nach einer Krankheit taub, die Sehkräfte von Mary Cassatt und Edgar Degas ließen nach, Henri de Toulouse-Lautrec war kleinwüchsig, Lovis Corinth litt nach einem Schlaganfall an einer halbseitigen Lähmung, Henri Matisse hatte sein Leben lang starke Schmerzen: Sie und ihre Wege, mit einer Beeinträchtigung umzugehen, seien auch Vorbilder für Menschen mit Behinderung, meint Mitkuratorin Eva Fischer-Hausdorf.

„Ich freue mich auf mehr Verständnis und den Aha-Effekt“, sagt Anna Schulze-Hulbe, die im Projektteam mitgearbeitet hat und selbst kleinwüchsig ist. „Wir sind eine sehr vielfältige Gesellschaft“, bekräftigt sie. „Und genau das möchten wir auch in der Ausstellung widerspiegeln. Unser Ziel ist es, möglichst vielen Menschen den Zugang zur Kunst zu ermöglichen.“

Damit das gelingt, hat die Kunsthalle nicht nur mit Blick auf die Auswahl der Werke auf die Expertise der inklusiven Projektgruppe gehört, sondern mit finanzieller Unterstützung der „Aktion Mensch“ auch den Zugang barrierefrei gestaltet. So sind die Ausstellungstexte in einfacher Sprache formuliert. In jedem Raum befindet sich ein Video, in dem die Texte in Gebärdensprache übersetzt werden. Es gibt Tastmodelle von Kunstwerken, am Boden führt ein taktiles Leitsystem Menschen mit einer Sehbehinderung durch die Räume. Besucherinnen und Besucher können spielerisch die Braille-Schrift oder die Gebärdensprache lernen.

Das Projekt sei ein Angebot, miteinander ins Gespräch zu kommen, betont Eva Fischer-Hausdorf. „Die Exponate lassen uns darüber nachdenken, wie sich Menschen mit ihren unterschiedlichen Zugängen die Welt sensorisch, sprachlich, emotional und sozial aneignen.“ Und Anna Schulze-Hulbe ergänzt: „Ich wünsche mir, dass wir Barrierefreiheit nicht mehr diskutieren müssen. Sie betrifft uns alle. Ich möchte selbst entscheiden, ob ich an etwas teilhaben will – und dafür brauche ich den Zugang.“