„Meint Ihr das ernst?“
Der East Pride Berlin 2021, eine Demonstration gegen Diskriminierung queerer Menschen, ruft dazu auf, gegen Angriffe auf die freie Gesellschaft am 26. Juni auf die Straße zu gehen. An der Gethsemanekirche, wo sie startet, fällt ein Plakat auf mit der Aufschrift „Homophobie ist Sünde“. Warum diese Provokation?
Von Anette Detering und Wolfgang Beyer
Der Satz „Homophobie ist Sünde“ mitten in einem zentralen Wohngebiet Berlins ruft Irritationen hervor. Wir, die Veranstalter*innen, haben der Gethsemanegemeinde diese Aussage als Motto für den Gottesdienst am 26. Juni vorgeschlagen. Um 11 Uhr soll mit der Gemeinde und unserem Bischof Christian Stäblein in den Start des East PRIDE Berlin gefeiert werden.
Nachdem wir das Banner am 10. Juni über dem Hauptportal der Gethsemanekirche entrollt haben, kam es sofort zu heftigen Reaktionen. Ein junger Mann blieb stehen und traute seinen Augen kaum und rief empört zu uns hoch: „Meint Ihr das ernst?“ Ja, wir meinen es tatsächlich ernst. Er rief seine Worte mitten in unsere Ansprache hinein und war dann auch sogleich verschwunden. Wir kamen leider nicht mehr ins Gespräch.
Homosexualität und homosexuelles Leben gilt seit Jahrhunderten als Synonym für Sünde schlechthin. Es gab verschiedenste Begrifflichkeiten, um das zu beschreiben, was eigentlich alle Menschen im Stande sind zu empfinden: liebevolle, erotische und sexuelle Gefühle für Menschen des gleichen Geschlechts. Egal ob Sodomiten, Perverse, Homophile oder Homosexuelle – die Begriffe dienen dazu, homosexuelle Gefühle aus der kollektiven Identität der Mehrheitsgesellschaft auszugliedern. Homosexuelle Gefühle sind immer Gefühle der Anderen.
Wenn nun plötzlich Menschen im Prenzlauer Berg vor einer Kirche stehen und die Worte „Homophobie ist Sünde“ lesen, dann müssen sie sie mindestens zweimal lesen, um wirklich zu verstehen, dass an dieser Kirche nicht steht: „Homosexualität ist Sünde.“ Denn so haben wir alle es gelernt und tief verinnerlicht – egal ob Christen oder Atheisten. Dass nicht die Homosexualität, sondern die Angst vor ihr das Problem ist, das haben Schwule und Lesben nach dem Aufstand 1969 im Stonewall Inn als den entscheidenden Schlüssel öffentlich zur Sprache gebracht.
Nicht wir Homosexuellen müssen uns rechtfertigen, nicht die Ursache unseres homosexuellen Verlangens machen wir zum öffentlichen Thema, sondern die Phobie vor diesen Gefühlen und den Hass gegen die Menschen, die sich offen zu diesem Verlangen bekennen. Wir provozieren bewusst die Irritation beim Lesen und Hören dieser Aussage. Denn in dieser Irritation werden wir alle – sogar uns selber ist die Vertauschung der Begriffe „Homophobie“ und „Homosexualität“ unterlaufen – mit unseren eigenen Vorbehalten, mit unserer eigenen Betroffenheit konfrontiert.
Wir alle haben antihomosexuelle Vorbehalte deshalb so tief verinnerlichen können, weil wir selber homosexuelle Gefühle erlebt haben und deshalb auch dafür sensibilisiert sind, dass wir sie in dieser Welt bis heute nicht problemlos offen leben können. Homophobie ist nicht erklärbar ohne die homosexuelle Betroffenheit. Um es im biblischen Bild schlechthin für das Phänomen „Sünde“ zu sagen: Das Misstrauen gegen die vorbehaltlose Zusage Gottes wurde nicht erst durch die Schlange von außen in den Menschen hineingetragen. Aber in der Erzählung von der Ursünde stellt die Schlange eine Situation der Problematisierung der vorbehaltlosen Liebe Gottes her. Und es gelingt dem Menschen offenbar nicht, dieser Situation standzuhalten. Hier nicht standhalten zu können, ist Sünde, sich der Versuchung der Homophobie hinzugeben, ist Sünde.
Dieses Wort von der Homophobie als Sünde verstehen wir als eine große Verheißung und Zusage Gottes. Sie gilt uns allen, die wir an der verinnerlichten Unterdrückung und Problematisierung der homosexuellen Liebe leiden.