Artikel teilen:

Hoffnung auf eine bessere Zukunft

Juan ist eine Touristenattraktion in Barcelona. Er hat es geschafft, sich wieder eine Existenz aufzubauen. Er war obdachlos, jetzt hat er wieder ein Dach über dem Kopf, eine Partnerin und einen Job: Er zeigt Touristen „seine Stadt“ von einer anderen Seite

In den Ranglisten der beliebtesten Touristenziele Europas liegt Barcelona weit vorne. Auch in diesem Sommer kommen wieder Tausende Menschen aus aller Welt in die katalanische Hauptstadt. Seit fünf Jahren leitet Pfarrer Ottmar Breitenhuber aus Ingolstadt dort die deutsche Gemeinde. „Dass so eine Stadt wie Barcelona neben all den touristischen Schönheiten, die sie bietet, auch viele soziale Probleme hat, ist klar. Aber man erwartet vielleicht nicht, dass hier in der Altstadt Menschen leben, die um ihr Überleben kämpfen. Mit solchen Eindrücken werden die Touristen in der Regel nicht konfrontiert.“

Die Armen spüren wenig vom Aufschwung

Wenn man die ökonomischen Statistiken betrachtet, scheint es langsam bergauf zu gehen mit der spanischen Wirtschaft. 2015 ist das Bruttoinlandsprodukt um drei Prozent gestiegen und auch die Prognosen für 2016 sind vielversprechend. Doch die bedürftigsten Opfer der Wirtschaftskrise spüren davon wenig. Einer von ihnen ist Juan. Der Mittfünfziger war jahrelang obdachlos. Jetzt verdient er sich ein paar Euro mit alternativen Stadtführungen.
Heute kommt eine Schulgruppe mit 16- und 17-jährigen Mädchen.Treffpunkt ist der Platz vor der Kathedrale im gothischen Viertel der Altstadt. Die Schülerin Larissa ist gespannt auf die etwas andere Stadtführung. „Wir sind ein Kunstleistungskurs. Bisher haben wir uns vor allem die Architektur Barcelonas angeschaut. Es ist gut, auch mal etwas mehr über die Menschen zu erfahren, die hier auf der Straße leben.“
Die Klasse lernt Juan kennen, den ehemaligen Obdachlosen, der einen Neuanfang geschafft hat – als Touristenführer. Er spricht deutsch, weil er in Pforzheim aufgewachsen ist, wo seine spanischen Eltern noch heute leben. Zuerst stellt er das Projekt vor: „Wir nennen uns Hidden City Tour. Meine Chefin ist Engländerin. Sie heißt Lisa Grace. Sie hatte mal einen guten Arbeitsplatz. Aber dann ist sie schwanger geworden, mit Zwillingen. Und wenn man hier schwanger wird, dann wird einem gekündigt.“
Lisa Grace wohnt seit 14 Jahren in Barcelona. Ihre Arbeitslosigkeit hat sie als Chance gesehen, etwas ganz Neues anzufangen: „Ich habe an einer der schlimmsten Straßen des historischen Zentrums von Barcelona gelebt. Da waren jeden Tag Dutzende Obdachlose. Wenn ich morgens runterging, sah ich immer dieselben Leute. Sie hatten die Nacht auf der Straße verbracht. Mit der Zeit wurden sie sowas wie Nachbarn für mich. Die Armut war offensichtlich.“
Juan ist einer der populärsten Führer von Hidden City Tours. Die deutschen Schülerinnen erfahren einiges über seine persönliche Lebensgeschichte. „Ich bin in Deutschland aufgewachsen, war dort in der Schule, hatte deutsche Freunde.“
Bald nach der Schule hat Juan geheiratet. „1999 ist meine Tochter zur Welt gekommen. Aber dann ist sie gestorben. Danach habe ich mich nicht mehr mit meiner Frau verstanden. Ich bin zu meinen Eltern gezogen und habe mit Drogen angefangen.“
Im Jahr 2000 hat Juan drei Kilo Haschisch aus Holland nach Deutschland gebracht. Doch schon im Zug wurde er von der Grenzpolizei erwischt. Er wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und nach der Haft direkt nach Spanien abgeschoben, weil er dort geboren ist. „Die kamen eines Abends und sagten mir: ‚Morgen geht dein Flieger.‘ Und am nächsten Tag, Flughafen, Flugzeug und Tschüß nach Barcelona.“
Die Gruppe biegt in eine enge, dunkle Gasse. An einer Ecke hat gerade ein neues Café mit schicken Möbeln in Neonfarben eröffnet. Auf der anderen Straßenseite blättert der Putz von den Wänden und es riecht nach Urin. Juan öffnet eine gammelige Holztür und erzählt: „In diesem kleinen Raum haben zwei Frauen geschlafen. Dann sind ein paar reiche Jugendliche aus den schicken Gegenden der Stadt gekommen. Sie hatten eine Flasche Benzin dabei, und ein Serviertablett. Sie haben die Flasche angezündet, hier reingeschmissen und die Tür zugemacht. Das Tablett haben sie so unter die Tür geschoben, dass man von innen nicht mehr aufmachen kann. Beide Frauen sind gestorben.“ Die Schülerinnen aus Deutschland sind schockiert. Eine fragt: „Hattest du nie Angst, dass es auch dich treffen könnte?“
„Doch natürlich“, antwortet Juan. „Ich habe voll Schiss gehabt, immer Angst um mein Leben.“
Die Tour geht weiter, vorbei an ein paar jungen Frauen, die auf dem Bürgersteig stehen. Prostitution ist in Barcelona verboten. Trotzdem bemühen sich die Frauen nicht, ihr Angebot zu verbergen. Elisabeth ist 22 Jahre alt: „Zur Zeit lebe ich in einer besetzten Wohnung. Entweder du hast Geld fürs Essen oder für die Miete. Für beides reicht es nicht. Ich bin mit einem Tritt reingekommen. Die Tür war ziemlich morsch. Ich habe das Schloss ausgewechselt und jetzt bleibe ich in der Wohnung, bis ich wieder rausgeworfen werde. Dann suche ich mir was anderes. Das nennt sich: Überleben.“
Plötzlich deutet Juan mit seinem Zeigefinger auf die oberen Stockwerke eines verwahrlosten Gebäudes. „Dort oben wohne ich, im vierten Stock.“

Die Schülerinnen sind von Juan beeindruckt

Juan teilt sich seine Wohnung mit einem Freund und mit seiner Lebensgefährtin Mari. „Ich heiße Mari Dolores Lupianos Marti. Ich lebe hier in Barcelona. Seit 2006 bin ich die Freundin von Juan. Zur Zeit arbeite ich nicht. Ich bin arbeitslos.“
Mari ist dünn, geradezu dürr. „Ich möchte nicht erzählen, wie ich auf der Straße gelandet bin. Obwohl, warum sollte ich nicht sagen, dass es die Drogen waren. Die sind schuld. Aber darüber zu reden macht mich müde. Das mit Juan war Liebe auf den ersten Blick. Als ich ihn besser kennengelernt habe, hat er mir noch mehr gefallen. Das Beste an Juan ist sein Charakter, seine Persönlichkeit. Er ist der beste Mensch der Welt.“
Während der Tour trifft Juan immer wieder auf alte Bekannte aus dem Milieu: „Das da drüben ist ein fauler Sack, sonst nix. Er hat zwei hübsche Töchter. Ist ein Nachbar von uns. Der heult immer und schimpft, dass es ihm so schlecht geht. Ich sag dann: ‚Junge, du hast zwei Töchter, du hast ‘ne Frau, und du heulst, weil du keine Arbeit hast. Irgendwas machst du falsch.“
Die Tour geht zu Ende. Die Schülerinnen sind beeindruckt. Viele stellen noch Fragen: „Du hast so viele Erfahrungen auf der Straße gemacht. Was meinst du, wäre eine Lösung, um Menschen aus dieser Situation rauszuholen?“
Juan überlegt nicht lange: „Diese Frage hast du dem Falschen gestellt. Es gibt Leute in der Regierung, die verdienen viel Geld. Die müssen sich darüber den Kopf zerbrechen, nicht ich. Ich lebe hier mittendrin. Wenn ich das reparieren könnte, dann würde ich nicht hier stehen, dann wäre das alles hier ganz anders.“