Artikel teilen:

Historiker Kowalczuk über den Effekt des “DDR-Virus” bei Wahlen

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ist nicht überrascht über den ostdeutschen Rechtsruck bei den Europawahlen. Er wünscht sich von Westdeutschen mehr Kritik und Realismus beim Umgang mit DDR-Nostalgie.

Die Erfolge von AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht im Osten der Bundesrepublik zeugen aus Sicht des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk von einem falschen Staats- und Friedensverständnis bei vielen ostdeutschen Wählern. Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) warnte er am Freitag in Berlin, dass die eigentliche “Offenbarung” aber noch bevorstehe – bei den kommenden Landtagswahlen.

KNA: Herr Kowalczuk, bei den Europawahlen ist die vom Bundesverfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestufte AfD im Osten die stärkste Kraft geworden. Auch das Bündnis Sahra Wagenknecht hat dort aus dem Stand zweistellige Prozentzahlen erreicht. Wie geschockt sind Sie über diese Ergebnisse?

Kowalczuk: Ich bin nicht geschockt, denn ich habe mit noch Desaströserem gerechnet. Ich fürchte, dass dies auch noch nicht das Ende der Fahnenstange ist. Die Landtagswahlen im Herbst werden die eigentliche Offenbarung sein.

KNA: Eine antidemokratische, antifreiheitliche und pro Kreml-Offenbarung?

Kowalczuk: Ja.

KNA: Was sind aus Ihrer Sicht die Hauptursachen für ein solches Wahlverhalten?

Kowalczuk: Ich fürchte, dass all die Gründe, die in der Öffentlichkeit als solche gehandelt werden, nicht wirklich zutreffen – Transformationserfahrungen, Protest, der Osten wird zu wenig gehört … ganz ehrlich, ich kann das alles nicht mehr hören. Wir haben im Osten ein anderes Staatsverständnis als im Westen. Darüber müssen wir reden! Viele Ostdeutsche, die AfD oder BSW gewählt haben, messen dem Staat eine geradezu väterliche Fürsorgefunktion zu. Der Staat wird dadurch aber überfordert, woraus der gleichzeitige Hass auf ihn und die Ablehnung des Staates resultiert.

KNA: Eine Überhöhung des Staates muss nicht zwangsläufig zum Nationalismus oder Rassismus führen.

Kowalczuk: Diese Phänomene haben eine andere Ursache. Rassismus und Nationalismus sind in der ostdeutschen Gesellschaft nie aufgearbeitet worden. Das hat die SED der Gesellschaft nur eingeredet, doch es passierte nicht. Es gab nur eine Oberflächenabdeckung. Deshalb erleben wir bei vielen Ostdeutschen stark verinnerlichte extremistische Positionen, die gebündelt sind mit einer tiefen Abwehrhaltung gegenüber den westlichen Werten, dem westlichen Liberalismus, den westlichen Allianzen. Das ist der Link, warum große Teile Ostdeutschlands so eine Affinität zu Russland und dem Kreml haben: Man verbündet sich mit Putin, weil er der größte Feind des Westens ist.

KNA: Was Sie beschreiben, klingt wie eine Art DDR-Virus. Zeigen die Ostdeutschen, die im Westen leben, nicht, dass man sich von dieser Mentalität befreien kann?

Kowalczuk: In meinem neuen Buch “Freiheitsschock”, das in wenigen Tagen erscheint, gebe ich Uwe Johnson sehr viel Raum. Johnson hat 1970 einen Essay geschrieben, in dem er die Menschen beschreibt, die aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen sind und die es einfach nicht schaffen, sich von der DDR zu befreien. Sie behandeln die DDR so, als wäre sie weiter ein Teil der Familie. Obwohl diese Leute keine Freunde der DDR waren! Johnson macht klar, dass das Weggehen aus der DDR nicht gleichbedeutend ist mit dem Ankommen in der neuen Gesellschaft und schon gar nicht zu einer Identifizierung führen muss.

Genau das ist nach 1990 flächendeckend passiert, weshalb ich in meinem Buch von “Uwe Johnsons Kindern” spreche. Fast alle diese Leute wollten die DDR weghaben, aber ein großer Anteil von ihnen wollte nie in dieser Bundesrepublik ankommen, sondern sehnte sich nach einem “dritten Weg”: die eigene Verantwortungslosigkeit aus der DDR bewahren und dazu das Westgeld, um alle Angenehmlichkeiten zu genießen. Das haben westdeutsche Politiker bis heute nicht verstanden.

KNA: Sie haben sich in den vergangenen Jahren intensiv mit der Person des SED-Politikers und überzeugten Kommunisten Walter Ulbricht auseinandergesetzt, haben eine von der Kritik gefeierte doppelbändige Biografie veröffentlicht. Bietet denn die Geschichte kein wirksames Gegenmittel gegen das DDR-Virus?

Kowalczuk: Wenn man sich mit der Geschichte des Kommunismus und der DDR beschäftigt, stößt man sicherlich auf Dinge, die für unsere Gegenwart interessant sind. Da gehört das Staatsverständnis dazu, das Freiheitsverständnis. Ganz wichtig ist aber auch das Friedensverständnis, das bis heute in verschiedenen Teilen der Welt grassiert. Frieden wird von den Kommunisten als eine Situation definiert, die nur von bestimmten Kräften garantiert werden kann – eben den Kommunisten und Antifaschisten. Alles, was aus dem Westen kommt, wird einer Kapitalismuskritik unterzogen und gilt als faschismusaffin. In den Reden von Sahra Wagenknecht, Alice Weidel und Tino Chrupalla kann man Argumentationsfiguren aus den 1920er Jahren entdecken, die damals sowohl von Kommunisten, aber auch von italienischen Faschisten benutzt wurden.

KNA: Geschichte als nachhaltiges Diagnose-Instrument?

Kowalczuk: Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel: die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, die gerade überall abgefeiert wird. Sie sagt in Interviews Dinge, welche Westler tief verstören müssten, nämlich: Im Westen gibt es keine Hoffnung; es war toll, an der Mauer aufzuwachsen; nur im Osten konnte man in eine Zukunft mit Visionen schauen … solche Aussagen werden heutzutage wohlwollend als Folklore hingenommen, doch wenn man das tut, dann nimmt man auch hin, dass unsere Demokratie immer beliebiger wird. Als jemand, der sich Karl Raimund Popper sehr verpflichtet fühlt, kann ich nur sagen: Es gibt Grenzen der Toleranz, und an diesen Grenzen müssen wir bei Debatten hart und intolerant sein. Ich habe die DDR nicht als Idylle erlebt, sondern als Diktatur mit vielen Verboten und Verfolgungen und Toten. Und das ist nicht nur eine Erlebnisfrage, sondern auch ein Wissen-Wollen.

KNA: Zur Verteidigung der Ostdeutschen kann man sagen, dass radikale Parteien auch in anderen Ländern Europas derzeit großen Zulauf haben.

Kowalczuk: Stimmt. Und es gibt Länder in Ost- und Mitteleuropa, wie Polen, die zeigen, dass selbst dann, wenn ein Land zwischendurch mal wegkippt, die Demokratie trotzdem nicht verloren ist. Das Problem ist nur: Die Ostdeutschen sind nicht die Polen. Die Polen haben mehrheitlich für die Freiheit gekämpft, die Mehrheit der Ostdeutschen stand bis 1989 hinter der Gardine und hat beobachtet, wie es ausgeht. Als klar war, wer gewinnt, schlug man sich auf die Seite der Sieger. Die Demokratie gab es als Geschenk.

KNA: Das klingt düster.

Kowalczuk: Die Gefahr, dass ich noch einmal in einem nicht-demokratischen System leben muss, ist weitaus größer, als ich es mir in den ersten 30 Jahren der deutschen Einheit auch nur ansatzweise hätte vorstellen können. Das gilt für ganz Europa und auch Amerika. Dabei bedienen sich die Feinde der Offenen Gesellschaft desselben Tricks: Sie versprechen Sicherheit durch Rückkehr zur Vergangenheit.

Dieser Nostalgie-Trick verfängt bei vielen. Denn: die Vergangenheit kennt man, sie scheint in der digitalen Welt, welche die Menschen überfordert, ein Terrain des Schutzes zu sein. Das ist eine Täuschung, gegen die sich Demokraten wehren müssen; am besten solange noch nicht die Panzer auf der Straße stehen.