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Hier schmeckt es wie zu Hause

Rund 8800 Mahlzeiten im Jahr werden in Wismar beim „Mittagstisch für Leib und Seele“ ausgegeben – an liebevoll gedeckten Tischen. Bei einem Gottesdienst erinnert Bischof v. Maltzahn an die Anfänge.

Das Jubiläum wurde mit einem Gottesdienst gefeiert
Das Jubiläum wurde mit einem Gottesdienst gefeiertMarion Wulf-Nixdorf

Wismar. „Es schmeckt wie zu Hause“, sagt Birgit Sobiech. Man merkt ihr an, dass ihr das wichtig ist. Sie ist eine von rund 100 Ehrenamtlichen in zehn Jahren, fast alle Frauen, aber auch einige Männer, die jede Woche in der Nikolaikirche in Wismar oder im Ökumenischen Kirchenladen im DDR-Neubaugebiet Friedenshof gesundes, schmackhaftes Essen zubereiten und ausgeben. In der Winterkirche in Nikolai kann jeder – ob arm oder einsam oder beides – montags an liebevoll gedeckten Tischen Platz nehmen, essen und mit anderen ins Gespräch kommen. Dienstags lädt der Mittagstisch im Ökumenischen Kirchenladen im Stadtteil Friedenshof ein und freitags gibt es seit vier Jahren den „Suppentisch“ in St. Nikolai.
In die Nikolaikirche kämen meist zwischen 70 und 80 Frauen und Männer, in den Kirchenladen 30. Das sind im Schnitt 170 Mahlzeiten, die Woche für Woche frisch zubereitet werden – vom Kartoffeln schälen übers Gemüse schnippeln, eben wie zu Hause.  Rund 8800 Mahlzeiten im Jahr.

Nachspeise gehört dazu

Ab 8 Uhr sind die ersten Helferinnen da, bis gegen 15 Uhr werde jede Hand gebraucht, und dann ist wieder alles aufgeräumt in der Küche. Es gäbe verschiedene Teams mit um die fünf Leute. Die Lebensmittel sind meist Spenden, manchmal müsse etwas dazu gekauft werden, dafür gebe es ein gemeindeigenes Fahrzeug. In der Küche stehen genügend Kühlmöglichkeiten zur Verfügung. Im Sommer bringen Gartenbesitzer oft Gemüse und Obst – „wenn es Äpfel gibt, werden eben kistenweise Äpfel verarbeitet“, sagt Birgit Sobiech.
Zum Mittagessen gehört auch ein Nachtisch, ebenso Tee oder Kaffee. Ein Euro wird von den Essensteilnehmern erbeten. Wer nicht einmal den hat, wird auch nicht weggeschickt. Auch wenn mal einer kräftig nach Alkohol rieche, bekäme er etwas, sagt Birgit Sobiech.
Das Schönste an dieser Arbeit sei, dass man mit den unterschiedlichsten Leuten ins Gespräch käme. Man dürfe keine Vorurteile haben und müsse zuhören können. Man höre viele Geschichten, zum Beispiel die von dem Mann, der nach der Scheidung jeden Halt verloren habe und sich irgendwann als Obdachloser wiedergefunden habe. Der Mittagstisch sei eben nicht nur für den Leib da, sondern auch für die Seele. „Wir sprechen auch die Urlauber an, die sich die Kirche ansehen, laden sie auch ein. Aber die meisten meinen, sie wollen den Bedürftigen nichts wegessen. Aber viele geben trotzdem eine Spende, weil sie es toll finden, was wir hier machen.“  Manche nähmen einen Kaffee oder Tee an und gäben dann auch gern eine Spende.

Hungrige Kinder

In einem Gottesdienst in der Wismarer Nikolaikirche wurden all die Ehrenamtlichen geehrt. Auf der ersten Liste der ehrenamtlich Beteiligten vor zehn Jahren hätte es rund 20 Namen gegeben, sagte Pastor Roger Thomas. „Inzwischen haben mehr als 100 ohne Unterbrechung Menschen zum Essen eingeladen.“
In seiner Predigt verglich Bischof Andreas v. Maltzahn den Mittagstisch für Leib und Seele mit der Speisung der Fünftausend aus der Bibel. Er war Gemeindepastor an St. Nikolai, als der Mittagstisch seinen Anfang nahm: „Wir bekamen mit: Da gibt es Kinder in unserer Nachbarschaft, die gehen morgens schon hungrig in die Schule und bekommen oft genug auch mittags nichts Rechtes zu essen. Da werden es immer mehr in unserer Stadt, bei denen es finanziell eng wird. Andere unter uns leben allein – und würden doch gern ab und zu gemeinschaftlich mit anderen zu Mittag essen.“
In einem Gottesdienst vor über zehn Jahren, in dem es um die Speisung der Fünftausend ging, sei klar geworden: „ Wir können Veränderung nicht von anderen erwarten.“ Die Worte Jesu gelten auch uns: „Gebt ihnen zu essen.“  So kam es zur Planung des Mittagstisches in St. Nikolai und im Kirchenladen.  Der Bischof weiter: „Schnell wurde deutlich: ‚Wir wollten nicht einfach Spenden sammeln, damit dann woanders Menschen eine warme Mahlzeit bezahlt werden kann. Wir wollten selbst etwas tun. Wir wollten Kontakt zueinander finden, wollten Gemeinschaft ermöglichen und erleben.‘ Die Nikolaigemeinde entschloss sich: Hier in unserer Kirche, wo wir Gottesdienst feiern, wollen wir mit dem Mittagstisch anfangen! Ich bin  Martin Poley und dem Team der Offenen Kirche bis heute dankbar, dass ihr euch auf dieses Projekt und die damit verbundene zusätzliche Arbeit eingelassen habt!“, denn dies gehöre sicher nicht in die Dienstbeschreibung eines Küsters.

Alles wird selbst gekocht

Man hätte das Essen auch anliefern lassen können, aber die Frauen hätten darauf bestanden, selbst zu kochen: „Es sollte schön werden!“ Er sei dankbar, dass sich immer wieder Menschen bereit fänden, ihre Zeit und ihre Fähigkeiten in den Dienst des Mittagstisches zu stellen. Bischof v. Maltzahn bedauerte, dass die Diakonie nicht mehr bei dem Projekt mitmache, „insbesondere im Blick auf die Beratung“. Dafür seien andere ins Boot gekommen wie der Kunstverein KASO, dessen Mitglieder immer wieder aushelfen, wenn es einmal eng wird bei den Ehrenamtlichen.
Dabei dürften wir nicht übersehen, so der Bischof weiter,  dass die Zahl der Tafeln und Suppenküchen in unserem Land wachse. Dies sei ein doppeldeutiges Signal: „Es zeigt einerseits die vieltausendfache Bereitschaft von Menschen, füreinander da zu sein. Die gab es nicht nur früher. Es zeigt andererseits aber auch, dass Armut in unserer Gesellschaft für viele Menschen Tag für Tag bedrückende Wirklichkeit ist. Neben Mittagstischen braucht es also auch politische Veränderungen – eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, bessere Bildungschancen für Heranwachsende, geförderte Arbeitsplätze für Menschen, deren Belastbarkeit dem heutigen Arbeitsmarkt nicht gewachsen ist. Auch dafür gilt es, sich einzusetzen – etwa bei den Wahlen, die anstehen.“