Zwei gemobbte Teenager nehmen Rache an ihrem Schuldirektor: Davon erzählt die sechsteilige Tragikkomödie “Nackt über Berlin” von Autor und Regisseur Axel Ranisch.
Jannik Schade (Lorenzo Germeno) hat einen Alptraum. Er findet seinen Schuldirektor Jens Lamprecht (herausragend: Thorsten Merten) tot in dessen Badewanne. Verzweifelt versucht er, das Leben des Pädagogen zu retten. Doch der Suizidversuch scheint geglückt. Panisch schnappt sich Jannik seine Sachen und flieht aus der Wohnung.
Die Frage, was Realität ist und was nicht, drängt sich dem Zuschauer auf – über sechs Folgen der Serie “Nackt über Berlin” von Axel Ranisch. Der Regisseur verfilmte seinen gleichnamigen Roman, der 2018 beim internationalen Literaturfestival lit.Cologne mit dem Debütpreis ausgezeichnet wurde. Das Drehbuch schrieb der Filmemacher gemeinsam mit seinem Stammpartner Sönke Andresen. In der ARD sind sie am 13. Oktober ab 22.20 Uhr zu sehen.
Der übergewichtige Jannik gehört zu den Schülern, die jeden Tag voller Angst in die Schule gehen, weil sie von ihren Mitschülern gemobbt werden. An den Spitznamen “Fetti” hat er sich längst gewöhnt. Seinem einzigen Freund Tai Nguyen (Anh Khoa Tran) geht es ähnlich; der Außenseiter wird “Fidschi” genannt.
Auch Direktor Lamprecht versäumt keine Gelegenheit, die beiden zu dissen. Eines Nachts erhalten sie die Chance zur Revanche. Sie schleppen den sturzbetrunkenen Pädagogen in dessen Wohnung ab und halten ihn dort gefangen. Dafür nutzen sie die Vernetzung des Hauses: Der gesamte Haushalt von Lamprecht samt Türschloss wird ebenso wie Strom- und Wasserversorgung über ein digitales System gesteuert, das Tai und Jannik unter ihre Kontrolle bringen und manipulieren. Über die Kameras beobachten sie jeden Schritt Lamprechts. Seine Hilferufe kommen nie an.
Über die Gegensprechanlage beginnen die Jungen eine bizarre Kommunikation mit ihm. Lamprecht verstrickt sich in Vermutungen, wer sich ihm gegenüber als “Gott” ausgibt und ihn in diese Situation gebracht hat. Um seinen Peiniger zu besänftigen, beichtet er seine Sünden: Als Mann, Vater, Kollege und Pädagoge habe er versagt. Tai hat sichtbar Spaß an dem Seelenstriptease. Er treibt die Demütigungen voran, während Jannik zögert. Doch er wagt es nicht, seinem Freund zu widersprechen, mit dem er auch eine zarte Liaison beginnt. Auf der anderen Seite der Wand wird Lamprecht von Tag zu Tag verzweifelter.
In der Hauptfigur der Rachefantasie werden Fans und Freunde den Berliner Regisseur problemlos wiedererkennen. In Interviews bekennt Ranisch freimütig, dass er als beleibter Junge gehänselt wurde, Angst hatte, die Schule zu besuchen und sie überwand, in dem er vor dem Schulweg klassische Musik hörte. In der Pubertät machte ihn sein Coming Out nicht gerade beliebter.
Ein weiteres wiederkehrendes Motiv seiner Filme ist die innige Verbindung seines Protagonisten zu einem Elternteil. Janniks Mutter (Alwara Höfels) hält die schützende Hand über ihn. Der Vater (Devid Striesow) drängt ihn dagegen im zackigen, raumgreifenden Ton zum Sport und zu Hormonen, um die Sache mit der Sexualität “zu bereinigen”.
Regelmäßig verortet Ranisch seine Geschichten im Osten Berlins. Hier ist er in 1990ern rund um den Fehnfuhl aufgewachsen, an einigen markanten Orten hat er jetzt gedreht. Die damalige Atmosphäre samt Alltagsrassismus schildert er humorvoll überhöht. Vor allem trifft der mittlerweile 40-jährige Regisseur bei der Adaption seines eigenen Romans jenen Ton, der seine autobiografisch gefärbten Filme zu Juwelen machen: Eigene Erfahrungen bringt er selbstironisch in die Situation der Hauptfiguren ein; dabei schwingen eine gehörige Portion Tragik und Bitternis mit, weil er das Leben kennt und das Thema ernst nimmt. Diese hohe Kunst der Komödie beherrschen nicht viele Regisseur hierzulande.
Das Lachen wurde früh Ranischs wichtigstes Mittel, um mit der eigenen Situation umzugehen. Mit “Nackt über Berlin” lädt er Millionen Leidensgenossen dazu ein. Viele werden sich dabei an die eigene Schulzeit und den Wunsch erinnern, ein ungleiches Machtverhältnis umzudrehen und sich niemals unterkriegen zu lassen.