Die Hamburger Journalistin Heide Fuhljahn (50) führt buchstäblich ein schweres Leben. Sie leidet seit mehr als zehn Jahren an Adipositas. „Mein Übergewicht schmerzt mich jeden Tag. Es zu tragen, ist schwer und ich gelte als unattraktiv. Aber ich möchte mich endlich okay finden“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit Blick auf den Welt-Adipositas-Tag am 4. März. In ihrem neuen Buch „Allein unter Dünnen“, das am 1. März erscheint, räumt sie mit Vorurteilen gegenüber Adipösen auf, stellt sich 14 Mutproben und erklärt, warum Gesellschaft, Gesundheitssystem und Lebensmittelindustrie sich wandeln müssen, damit dicke Menschen es leichter haben.
Autobiografische Passagen wechseln sich in dem 300 Seiten umfassenden Buch mit Fakten und Interviews ab. Fuhljahn berichtet von ihrer Kindheit in Kiel und dem frühen Tod ihrer alkoholkranken Mutter, der bei ihr eine Posttraumatische Belastungsstörung auslöste. Sie erzählt von Mobbing im Internat und ihrem Vater, der ihr, wie auch Medien und Mitschüler, einredete, mit Kleidergröße 38 sei sie zu dick.
Nach Jahren mit frustrierenden Diäten folgten Fressattacken, Fuhljahn litt schließlich an einer Binge-Eating-Störung mit periodischen Heißhungeranfällen. Für ihr Buch bestätigt der Nervenarzt und Psychoanalytiker Dr. Michael Dümpelmann, dass Übergewichtige häufig eine instabile Psyche hätten. Sie seien dünnhäutig und beruhigten sich nach schmerzhaften Erfahrungen mit Essen. So entstehe ein Teufelskreis: „Mehr Scham, mehr Essen“, sagt Dümpelmann.
Natürlich sei sie mitverantwortlich für ihre Situation, räumt Fuhljahn ein, die Kleidergröße 50/52 trägt. „Aber der politische Einfluss, ob Frauen sich für ihre Erscheinung schämen, egal, wie viel sie wiegen, ist riesig.“ In der Gesellschaft überwiege immer noch der Schlankheitswahn, als Ideal gelten dünne Frauen mit Waschbrettbauch.
Den Grund dafür sieht Dümpelmann darin, dass viele Männer Angst hätten vor der großen, sexuell begehrenden Frau, die „markig was auf die Waage bringt“ und so ihre Macht demonstriere. Mädchen und Frauen, denen gesagt werde, sie seien zu dick, werde eigentlich gesagt: „Du bist zu heftig! Du bist zu begehrend! Du willst zu viel!“
Die Bewegung Body Positivity, die sich für die Abschaffung unrealistischer Schönheitsideale einsetzt, sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, sagen Fuhljahn und Dümpelmann. Sie bilde einen Gegenpol auch in der Welt von Social Media, wo sich viele Influencerinnen noch von dem gängigen Körperbild leiten ließen.
Fuhljahn sieht außerdem die Lebensmittelindustrie als Hindernis zum Normalgewicht. „Gesundes Essen wie Obst und Gemüse ist teuer“, beklagt Fuhljahn, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht in Vollzeit arbeiten kann und von einem geringen Einkommen lebt.
Den meisten günstigeren verarbeiteten Produkten, wie Nudelsaucen, Gemüsebrühe oder Kartoffelsalat, sei extrem viel Industriezucker zugesetzt. Damit steige der tägliche Konsum zu einer Menge, die erheblich über der Empfehlung von Fachgesellschaften liege.
Bei Fuhljahn wirkt Zucker wie ein Suchtstoff, die nächste Fressattacke ist programmiert. „Eine Zuckersteuer wäre genauso wichtig wie eine verpflichtende Ampelkennzeichnung für Lebensmittel“, findet sie.
Die Hamburgerin wagte für ihr Buch 14 Mutproben, stellte sich also Situationen, die sie große Überwindung kosteten. Sie nahm an einem Selbstverteidigungskurs teil, machte Pilates in der Gruppe und besuchte einen FKK-Strand an der Nordsee.
Bei ihren Recherchen und Gesprächen erfuhr sie, dass außer Frauen queere Menschen, solche mit Handicap und mit Wurzeln in einer anderen Kultur ebenso diskriminiert werden. „Ich schäme mich heute weniger und werbe mit meinem Buch für mehr Toleranz gegenüber allen Menschen“, erklärt Fuhljahn. Als begeisterte Breitensportlerin wirbt sie auch dafür, dass Bewegung Spaß machen soll.