Annette Mehlhorn ist nach vielen Jahren in China nach Deutschland zurückgekehrt. Die Pfarrerin in Diensten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau musste in der Deutschsprachigen Christlichen Gemeinde Shanghai mit ökumenischen und politischen Anforderungen jonglieren. Das war manchmal ganz schön hart.
„Wie weit darf ich gehen?“ Das fragte sich Annette Mehlhorn in den vergangenen Jahren sehr häufig. Denn in China arbeiten die ausländischen Geistlichen in einem Graubereich und bezüglich der Arbeitsgenehmigung unter einem anderen Label. Es gibt offiziell anerkannte Religionen, dazu gehören der Daoismus, der Buddhismus, der Islam, sowie das katholische und evangelische Christentum. Sie sind in staatliche Strukturen integriert und stehen unter der Kontrolle der Religionsbehörde. Die Dachorganisation der evangelischen Kirche Shanghais ist der Shanghai Christian Council (SCC). Alle religiösen Gruppierungen und Gemeinden außerhalb der staatlich kontrollierten Verbände agieren mehr oder weniger im Untergrund.
Als sie 2013 für die evangelische Kirche nach Shanghai ging, tat sie das offiziell als „interkulturelle Projektmanagerin“. Geholfen bei der Arbeitsgenehmigung hat das Hamburg Liaison Office China. Hamburg unterhält seit 1986 eine Städtepartnerschaft mit Shanghai und kann sich auf gewachsene Strukturen und gute Verbindungen in die politischen Organe der Stadt stützen.
Chance zum geistlichen Brückenbau
Gemeinsam mit ihren Vorgesetzten in der EKD gelang es Mehlhorn, die Hamburger Bischöfin von der Bedeutung dieser Städtepartnerschaft auch für die kirchlichen Kontakte zu überzeugen. So kam es zu mehreren Dialog-Projekten, deren wohl wichtigstes der Besuch einer Delegation der Hamburger Kirche zum 35. Städtepartnerschaftsjubiläum war. „Die chinesischen Kirchen sind sehr interessiert an einem Austausch, sowohl in diakonischen Fragen als auch im Feld der theologischen Ausbildung“ – meint Mehlhorn. „Darin liegt eine bisher noch wenig genutzte Chance zum geistlichen Brückenbau in einer global immer zerrisseneren Welt.“ Stark sei darin allerdings inzwischen die Nordkirche, in deren Zentrum für Mission und Ökumene die China-Infostelle angesiedelt ist.
Typisch für die Gemeinde in Shanghai sei eine ständige Fluktuation. Klar, die meisten deutschsprachigen Familien kommen für zwei bis fünf Jahre in das asiatische Land. „Wir sind ein Notanker in schwierigen Lebenslagen“, beschreibt Mehlhorn, und zwar für alle, unabhängig von einer Konfession. Die Kirche dort stehe für alles, für sämtliche Hilfsangebote, Beratung, Lebenshilfe.
In der Gemeinde schon seit 2004 aktiv ist der katholische Pfarrer Michael Bauer. Mit ihm bildete Annette Mehlhorn ein ökumenisches Gespann. Die beiden Dachverbände der Kirchen haben sich mit dieser ökumenischen Gemeindestruktur arrangiert. „Es gibt uns, weil es uns nicht gibt“, sagt die Pfarrerin lachend.
Ganz so leicht war es nicht. Es ruckelte an manchen Stellen heftig, zum Beispiel beim gemeinsamen Abendmahl. „Ich empfinde es schon als sehr schmerzhaft, mit einem Kollegen als Hirtenteam diese Gemeinde zu leiten, der nicht bereit ist, aus meinen Händen das Abendmahl zu empfangen“, bekennt sie in einem Videofilm, der die Gemeinde porträtiert. „Doch auch wir haben uns neu entdeckt in dieser Krise.“ Damit meint sie die Corona-Pandemie. „In Krisenzeiten rücken die Leute wieder enger heran an die Kirche“, sagt sie. Viele Menschen in Shanghai hätten die Angebote der Gemeinde genutzt, auch solche, die mit Kirche nichts am Hut hätten.
Der erste Lockdown 2020 sei hart gewesen, aber nicht allumfassend. Lieferdienste durften weiter Lebensmittel bringen, U-Bahnen und Taxen weiterfahren. Die Menschen sollten zu Hause bleiben, konnten ihre Wohnung aber ohne Probleme auch verlassen.
Die Kirchen, in denen die Gemeinde zu Gast ist, seien zwar geschlossen worden. Doch seit Februar 2020 konnte an anderen Orten sonntäglich Gottesdienste in ökumenischer Gemeinschaft gefeiert werden, abwechselnd mit evangelischem Abendmahl oder mit katholischer Eucharistie.
Aufbrüche und Abbrüche im Lockdown
Vorher hätten sie zu bestimmten Festen Wortgottesdienste gefeiert sowie im zweiwöchigen Rhythmus entweder einen katholischen oder evangelischen Gottesdienst mit Eucharistie beziehungsweise Abendmahl.
Leider habe die Pandemie allerdings einen sehr wichtigen Schritt im Dialog verhindert: Für 2020 war ursprünglich ein Besuch des Rates der EKD in China geplant. Pandemiebedingt musste dieser abgesagt werden. „Diese Begegnung wäre sehr wichtig gewesen“, meint Mehlhorn bedauernd.
Der zweite große Lockdown im April 2022 sei komplett anders gelaufen als der erste. Er sei schleichend gekommen, die Menschen unvorbereitet hineingestolpert. Es habe sich um einen totalen Hausarrest gehandelt, in voller Härte und Länge. „Der öffentliche Verkehr kam komplett zum Erliegen. Versorgung mit Lebensmitteln war zunächst außer für besonders vernetzte Menschen fast ausschließlich durch Gnadengaben der Regierung möglich“, berichtet Mehlhorn. Infizierte Menschen hätten Bett an Bett in Messehallen kampieren müssen.
Die Gemeinde habe aus der Not eine Tugend gemacht und neue Online-Formate entwickelt. „Unsere Gottesdienste wurden bunter, vielfältiger, die Mitwirkung engagierter und phantasievoller“, ist Mehlhorn begeistert.
Normal: der überwachte Alltag
Sie selbst habe in einem Hochhaus gewohnt und ihre Wohnung nur ausnahmsweise verlassen dürfen, zum Beispiel zum Wasserholen. Überall gebe es Kameras, bei 2000 Bewohnerinnen und Bewohnern auf dem Gelände annähernd 100 Stück. Das weiß die Pfarrerin so genau, weil sie diese mal in Augenschein genommen hat. Sie hatte ihren Kanister an einer Wasserstelle gefüllt. „Aus der Leitung kann man es in Shanghai nicht trinken“, sagt sie. Sie habe noch etwas erledigen müssen und ihren vollen Kanister neben dem Aufzug abgestellt. Als sie hochfahren wollte, sei der Behälter nicht mehr dort gewesen.
Sie habe das Aufsichtspersonal um Hilfe gebeten, erzählt Mehlhorn weiter. Einer der Männer sei mit ihr in den Überwachungsraum gegangen. Klar ersichtlich auf den Aufzeichnungen: Eine Frau hatte den Kanister mitgenommen. Die Kamera im Aufzug zeigte an, in welcher der 33 Etagen sie ausgestiegen war. „Es handelte sich um meine Mitbewohnerin, die den Kanister erkannt hatte und schon mal mitnehmen wollte“, erklärt Mehlhorn. Wieder lacht sie.
Die Pandemie sei der restriktiven Politik Chinas jedenfalls sehr entgegengekommen. Als sie angekommen sei vor neun Jahren, habe sie gelernt, dass Shanghai nicht China sei. „Als ‚Chinas Tor zur Welt‘ atmete die ‚Stadt der Zukunft‘ einen ganz besonders freien Geist, verbunden mit der Bereitschaft zur Integration sehr unterschiedlicher kultureller Besonderheiten. Der Brückenbau zwischen Ost und West gehörte selbstverständlich dazu“, sagt Annette Mehlhorn.
Die Zeit bis zur Pandemie habe sie denn auch als eine Phase großer Freiheit erlebt mit weitgehenden Gestaltungsmöglichkeiten. Nun aber liege eine dunkle Wolke über der Stadt. Ob Shanghai zurückfände zu seinem quirligen Leben, sei zurzeit nicht zu beantworten. Was die Menschen dort jetzt aber vor allem bräuchten, seien verstärkte Bemühungen um einen aktiven und achtsamen Brückenbau von und nach China.
Ein Online-Format für mehr Einblicke
„Eine Brücke, die auch angesichts der aktuellen globalen Gemengelage dringend vonnöten ist“, findet Annette Mehlhorn. „Jetzt wäre es an der Zeit, ökumenische Kontakte nach China auszubauen.“
In der Deutschsprachigen Christlichen Gemeinde Shanghai basteln sie gerade an einem neuen Online-Format, das sich an Menschen richten soll innerhalb und außerhalb Chinas. „Der Geist weht, wo er will“, sagt Annette Mehlhorn. „Und in der DCGS haben wir ihn immer besonders stark gespürt.“ In diesem besonderen Geist können die deutschsprachigen Christinnen und Christen sicher auch künftig einen wertvollen Beitrag zum Brückenbau leisten.