Dietrich Bonhoeffer ist zwölf Jahre alt, als sein Bruder Walter an der Front in Frankreich stirbt. Der Tod erschüttert die Familie. Er markiert einen Wendepunkt in Bonhoeffers Leben. Die Bibel seines Bruders bekommt er bei seiner Konfirmation überreicht – und nutzt sie für den Rest des Lebens zur täglichen Andacht.
Schon mit 13 Jahren, so notierte er später, habe er gewusst, dass er Theologie studieren werde. Zunächst jedoch zweifelt Bonhoeffer: „Gott, sage selbst, ob ich Dich ernstlich meine, vernichte mich in diesem Augenblick, wenn ich lüge.“ Nach Schule und Freiwilligendienst überlegt er, ob er nach Indien reisen soll, um Gandhi zu besuchen.
Es lassen sich eine ganze Reihe von mystischen Glaubenserfahrungen im Leben von Bonhoeffer ausmachen. Als junger Theologiestudent geht Bonhoeffer 1924 nach Rom und ist beeindruckt von der Vesper in einem Frauenkloster, weil der „Ritus nicht mehr nur Ritus war, sondern Gottesdienst in wahrem Sinne. Das Ganze machte einen unerhört unberührten Eindruck tiefster Frömmigkeit.“
Zu seinem persönlichen Christusglauben findet Bonhoeffer während des Studienaufenthalts in New York 1930-1931. Intensiv erlebt er die Gottesdienste der schwarzen Gemeinde in Harlem – und beschließt, die Bibel als „Liebesbrief Gottes“ zu verstehen. Bonhoeffer will sein Leben nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi ausrichten. Dazu gehören für ihn ein Engagement für den Frieden, die Beschäftigung mit ethischen Fragestellungen sowie das Thema soziale Gerechtigkeit.
1935 kehrt Bonhoeffer nach Deutschland zurück und übernimmt die Leitung des Predigerseminars in Finkenwalde. Der Theologe führt strikte Regeln ein für die Vikare: Sie leben zölibatär und müssen bereit sein für einen Einsatz an jedwedem Ort. Eine gemeinsame Tagesordnung will eine seelsorgerliche Gemeinschaft schaffen, die geistliche Lebensvollzüge einübt. Die Kirche, so ist Bonhoeffer überzeugt, benötigt eine „Art neuen Mönchtums, das mit dem alten nur die Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat“.
Zur Tagesordnung gehört die tägliche Meditationszeit. „Das Schweigen des Christen ist hörendes Schweigen, demütiges Schweigen, das um der Demut willen auch jederzeit durchbrochen werden kann. Es ist Schweigen in Verbindung mit dem Wort“, schreibt Bonhoeffer. Die Vikare sollen Raum und Zeit zur Verfügung stellen, um auf Gott zu hören. Ohne Ruhe und Sammlung könne der Mensch Gott kaum begegnen.
Bonhoeffer versenkt sich oft eine ganze Woche lang in einen Bibeltext. In den freien Gebeten, die er in seinen Morgenandachten spricht, versucht er, den Glauben im Alltag zu verankern. „Wirklicher Glaube und Liebe waren ihm identisch“, erinnert sich später sein Seminarist Wilhelm Rott.
Die Nationalsozialisten entziehen Bonhoeffer 1936 die Lehrerlaubnis, dann verbieten sie das Seminar. Nun unterrichtet Bonhoeffer die Vikare im Untergrund.
Gegen Kritik an seiner spirituellen Praxis wehrt er sich. Dem Theologen Karl Barth erklärt er: „Man macht sich ja gar kein Bild davon, wie leer, ja völlig ausgebrannt die meisten der Brüder ins Seminar kommen. Leer sowohl inbezug auf theologische Erkenntnisse und erst recht biblisches Wissen, wie auch inbezug auf ihr persönliches Leben. (…) Dass aber sowohl theologische Arbeit wie auch wirkliche seelsorgerliche Gemeinschaft nur erwachsen kann in einem Leben, das durch morgendliche und abendliche Sammlung um das Wort, durch feste Gebetszeiten bestimmt ist, ist gewiss.“ In seinem Büchlein „Gemeinsames Leben“ entwirft Bonhoeffer die Lehrsätze für ein evangelisches Exerzitium, das auch als spiritueller Weg betrachtet werden kann.
1939 lehnt Bonhoeffer eine Professur in den USA ab. Er bekommt Rede- und Schreibverbot. Nun unterstützt er aktiv den Widerstand im Auswärtigen Amt und reist ins Ausland, um dort über Friedenspläne zu diskutieren. Er gehört frühzeitig zu jenen, die für Umsturz und „Tyrannenmord“ plädieren.
Im Januar 1943 verlobt er sich mit Maria von Wedemeyer, doch am 5. April 1943 verhaftet ihn die Gestapo und sperrt ihn in das Militärgefängnis von Berlin-Tegel. In seiner Zelle beschäftigt sich Bonhoeffer intensiv mit der Bergpredigt. Und er beginnt, sich morgens und abends zu bekreuzigen. Seinem Freund Eberhard Bethge schreibt er am 21. November 1943: „Ich habe die Anweisung Luthers, sich mit dem Kreuz zu segnen, bei Morgen- und Abendgebet ganz von selbst als eine Hilfe empfunden. Es liegt darin etwas Objektives, nach dem man hier besonderes Verlangen hat.“
In der Abgeschiedenheit der Zelle ähnelt sein Leben den mittelalterlichen Mönchen. Auf sich zurückgeworfen, beschäftigt er sich mit den schwierigen Facetten seiner Person. Kraft zieht er aus den biblischen Texten. Bonhoeffer ist überzeugt, dass der Mensch die Gemeinschaft mit Gott nicht von sich aus herstellen kann, sondern lediglich mithilfe von geistlichen Übungen vorbereiten kann. Die Gemeinschaft mit den anderen Gefangenen empfindet er als Geschenk: „Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, dass wir die großen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, der Beargwöhnten, Schlechterbehandelten, (…) kurz der Leidenden sehen gelernt haben.“
In Paul Gerhardts Lied „Ich steh an deiner Krippen hier“ entdeckt er ganz neue, mystische Seiten: „Man muss wohl lange allein sein und es meditierend lesen, um es aufnehmen zu können. (…) Ein klein wenig mönchisch-mystisch ist es, aber doch gerade nur so viel, wie es berechtigt ist. Es gibt eben neben dem Wir doch auch ein Ich und Christus, und was das bedeutet kann gar nicht besser gesagt werden als in diesem Lied“, notiert Bonhoeffer.
In seinem Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“, das er an Silvesterabend 1944 notiert, kommt sein gesamtes Gottvertrauen zum Ausdruck. Bonhoeffer spricht nicht von Gott, sondern von den Mächten, von denen er sich umgeben weiß. Am 9. April 1945 wird er im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet.