Fusionieren oder kleine Gemeinden erhalten?
Im Herbst 2021 beschloss die Synode der EKBO, dass Kirchengemeinden künftig mindestens 300 Mitglieder haben sollen. Gemeinden mit weniger Gemeindegliedern müssen sich zu einer größeren zusammenschließen. Schon im Vorfeld hatte das Kirchengesetz zu kontroversen und emotionalen Debatten geführt. Und es sorgt auch weiterhin für Konflikte. Viele Anträge votierten dagegen. Die Initiative „Die Kirche im Dorf lassen“ gründete sich und organisierte Protest. Liegt in kleinen vertrauten Gemeinden oder in größeren fusionierten Gemeinden die Perspektive für die kirchliche Zukunft? „die Kirche“ fragte nach bei einer Expertin, die sich intensiv mit Zukunftsfragen der Kirche beschäftigt. Das Ergebnis überrascht.
Von Uta Pohl-Patalong
Die unterschiedlichen Positionen sind aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus jeweils plausibel, scheinen jedoch kaum miteinander vereinbar. Wenn ich als wissenschaftlich arbeitende Praktische Theologin Stellung beziehe zu der Frage nach Sinn und Problematik (verpflichtender) Fusionen, dann tue ich dies distanzierend von der aktuell aufgeladenen Debatte zugunsten eines Blicks auf die Zukunft der Kirche in Deutschland.
Helfen kann hier zunächst einmal ein Blick auf das Gebilde „Ortsgemeinde“, das beide Seiten erhalten möchten. Dies ist ja eine zentrale Gemeinsamkeit der Anliegen beider Seiten – und ihre Problematik. Wer für die Fusionen ist, sieht die Lebens- und Funktionsfähigkeit von Gemeinden durch eine zu kleine Zahl von Gemeindegliedern gefährdet. Wer sich gegen diese ausspricht, sieht sie durch die Relativierung ihrer lokalen Verwurzelung von Kirche und der sozialen Überschaubarkeit bedroht. Diese Situation konnte durch die besondere Konstruktion von „Gemeinde“ entstehen, die sich in Europa historisch gebildet hat: Einerseits hat sich im Mittelalter die „territoriale“ Orientierung entwickelt, nach der „Gemeinde“ durch Bezirksgrenzen definiert wird und Menschen über ihren Wohnort einer Gemeinde zugewiesen werden.
Andererseits werden seit Ende des 19. Jahrhunderts dieser lokalen (Verwaltungs-)Größe soziale und emotionale Funktionen zugesprochen: Sie soll Glauben durch menschliche Kontakte zur Pfarrperson und zu anderen Gemeindegliedern in der räumlichen Nachbarschaft fördern. Diese Verbindung von Glaube, Ort und menschlichem Kontakt wurde emotional und theologisch aufgeladen. Sie ist aber keinesfalls zwingend, wie viele andere Formen von Gemeinde in anderen Ländern und teilweise auch in Deutschland zeigen.
Bisherige Strukturen sind historisch gebildet
Vor allem ist sie theologisch nur eine unter vielen Möglichkeiten, Gemeinde zu verstehen und zu leben. Denn geistlich ist nicht entscheidend, wie eine Gemeinde abgegrenzt wird, sondern was in ihr geschieht. Ihre Aufgabe ist es, die Kommunikation des Evangeliums mit unterschiedlichen Menschen — auch mit denen, die bisher noch keinen Kontakt zum Evangelium haben — zu fördern. Dem sollen ihre Strukturen bestmöglich dienen.
Wer für Fusionen ist, sieht mit einer geringen Mitgliederzahl zu Recht die Kommunikation des Evangeliums in den traditionellen ortsgemeindlichen Strukturen gefährdet. Denn das territoriale Prinzip beruhte auf einer Einheit von Religion und Bevölkerung – es wurde im vierten Jahrhundert etabliert, als das Christentum zur Reichskirche wurde. Zentral für dieses Prinzip ist die Zuständigkeit einer Amtsperson für die Versorgung aller religiösen Bedürfnisse in diesem Gebiet. Bleiben diese Prinzipien bestehen, wenn die Kirchenmitglieder und damit auch die Finanzen stark zurückgehen, leidet diese von Verwaltung und Versorgung aus denkende Kommunikation des Evangeliums erheblich. Aber auch das soziale Element von Gemeinde leidet, weil die Hauptamtlichen bei einer Zuständigkeit für viele Gemeinden kaum noch Kontakte pflegen können – und ein von breitem ehrenamtlichem Engagement getragenes Gemeindeleben in der Regel nicht in Sicht ist.
Welcher der beiden Wege ist zukunftsfähig?
Wer für die Beibehaltung der bisherigen Gemeindestrukturen ist, sieht zu Recht die Kommunikation des Evangeliums in der traditionellen Form sozial-lokaler Verwurzelung gefährdet. Denn die Idee von Gemeinde seit dem 19. Jahrhundert ist es ja, christlichen Glauben vor allem über Gemeinschaft und Geselligkeit zwischen den Menschen, die am gleichen Ort wohnen, zu fördern. Wird Gemeinde im größeren regionalen Rahmen gedacht, leidet die Identifikation von Dorf oder Stadtteil und Kirche und damit ein bestimmtes Wir-Gefühl der Gemeindeglieder untereinander und zu den Hauptamtlichen. Dies dürfte auch ein Grund für die erheblichen Widerstände gegen den Synodenbeschluss sein.
Beide Wege sind nicht zukunftsfähig
Spielt man beide Wege – verpflichtende Fusionen oder Beibehaltung der bisherigen Gemeindestrukturen – einmal bereits für die nähere, erst recht für die mittelfristige Zukunft durch, dürfte rasch deutlich werden: Beide Wege sind nicht zukunftsfähig. Die Freiburger Studie prognostiziert, dass die evangelische Kirche in den nächsten 25 Jahren noch einmal die Hälfte ihrer Kirchenmitglieder und die Hälfte ihrer Kirchensteuereinnahmen verlieren wird. Der Schwund der Hauptamtlichen wird noch deutlich darüber hinausgehen.
Strukturen erhalten, die für Volkskirche gedacht waren?
Das lässt fragen, wie es denn weitergehen soll, wenn weiterhin Strukturen erhalten werden sollen, die für eine christliche Gesamtbevölkerung gedacht waren. Wie groß soll die Region denn werden, die als eine Ortsgemeinde gilt? Oder wie klein sollen die Ortsgemeinden sein, die einen erheblichen verwaltungstechnischen Aufwand erfordern und wer soll diese Arbeit leisten?
Behutsam verändern oder bewahren?
In beiden Fällen scheinen mir die Chancen für eine lebendige und attraktive Kommunikation des Evangeliums, die auch andere Menschen als bisher erreicht und berührt, relativ gering. Meines Erachtens verhindern die erregte Debatte über Fusionen und ihre Umsetzung, der Widerstand und der Umgang mit Trauer und Verletzungen, die neuen Zuständigkeiten und Verwaltungsabläufe eher, dass die Kirche wirklich neue Wege denkt und geht. Beide Seiten denken von den gegenwärtigen Strukturen aus, die entweder behutsam verändert oder bewahrt werden sollen.
Welche Form von Kirche lässt Lebensrelevanz erfahren?
Weiterführend wäre jedoch meines Erachtens eher die grundsätzliche Frage, welchen Formen von Kirche eigentlich welchen Menschen die Chance bieten, die unermessliche Liebe Gottes so zu erfahren, dass sie für das Leben relevant wird – weil sie die Lebenszufriedenheit erhöht, den Umgang mit Krisen erleichtert, die Umsetzung von Visionen fördert, das Familienleben unterstützt, einen anderen Umgang mit der Schöpfung und gesellschaftlichen Randgruppen ermöglich und vieles mehr.
Meine These: Die Debatte um die verpflichtende Fusion von Gemeinde zeigt in ausgezeichneter Weise, dass die traditionellen ortsgemeindlichen Strukturen in ihrer Kombination aus territorialer Flächendeckung und sozialer Nähe nicht weiterführen. Dehnt man das Netz von Ortsgemeinde durch Fusionen weiter, ergeben sich ebenso große Verluste, wie sie beim Versuch entstehen, das Bisherige weiterzuführen. Beides bindet enorme Kräfte nach innen, die der Aufgabe der Kirche, Evangelium lebensnah und lebensrelevant für potenziell alle Menschen zu kommunizieren, nicht optimal unterstützen.
Energien für Debatten sinnvoller einsetzen
Die Kräfte und Energien, die gerade für die Fusionsprozesse verwendet werden, schienen mir in einer Debatte, welche Formen von Kirche und Gemeinde ihrem originären Auftrag bestmöglich dienen, sinnvoller eingesetzt. Möglicherweise können dabei sogar einerseits die Hauptamtlichen und die finanziellen Ressourcen in sinnvollen und funktionsfähigen Formen eingesetzt werden und andererseits (auf einer anderen Ebene als der lokalen) sozialer Kontakt und Gemeinschaft gelebt werden, womit beide Anliegen in neuer Weise erfüllt würden. Ein Versuch würde sich lohnen!
Lesetipp: Uta, Pohl-Patalong, Kirche gestalten. Wie die Zukunft gelingen kann, Gütersloh 2021, 2. Auflage, 256 Seiten, 20 Euro