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Gelebte Streitkultur

In einer polarisierten Gesellschaft blieb auch der Kirchentag kein Harmonietreffen. Hart wurde um Positionen gerungen. Andersdenkende waren ausdrücklich willkommen

epd-Bild/Christian Ditsch

BERLIN – Es sollte ein Treffen der Superlative werden. Die Veranstalter des evangelischen Kirchentags im Jahr des 500. Reformationsjubiläums dachten groß, als sie neben dem Haupt-Kirchentag – zum besonderen Anlass in der Hauptstadt Berlin – sechs regionale „Kirchentage auf dem Weg“ an Wirkungsstätten von Martin Luther (1483-1546) planten, einen Festgottesdienst in Wittenberg organisierten und den früheren US-Präsidenten Barack Obama einluden.
Ganz aufgegangen ist die Idee des gigantischen Fests der Protestanten nicht. Bei strahlendem Sonnenschein kamen nach Veranstalterangaben zwar 120 000 Menschen zum großen Schlussgottesdienst nach Wittenberg. Ganz zu Beginn der Planungen hatten die Organisatoren aber auf 200 000 gehofft, die Prognose dann auf 100 000 korrigiert. Immerhin konnte man die nun übertreffen.

Barack Obama verteidigt Merkels Politik

Die Teilnehmerzahlen der Kirchentage blieben hinter den Erwartungen zurück. 106 000 Dauerteilnehmer verbuchten die Veranstalter in Berlin. Geplant hatten sie mit bis zu 140 000. Bei den „Kirchentagen auf dem Weg“ kamen von 80 000 erhofften Gästen nur 50 000. Nimmt man alles zusammen, war es dennoch die größte Kirchentagsveranstaltung seit langem. Der Hamburger Kirchentag 2013 hatte 117 000 Teilnehmer, beim Ökumenischen Kirchentag in München 2010 waren es 127 000.
Nicht nur über schiere Größe, auch mit Prominenz wollte der Kirchentag punkten. Die Zusage Barack Obamas für Berlin war ein echter Coup. Dessen Bedingung, mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zu reden, brachte den Organisatoren aber auch den Vorwurf ein, der CDU-Chefin eine Wahlkampfbühne zu bieten. Wie sehr das Treffen mit Obama Merkel für die bevorstehende Bundestagswahl genutzt hat, ist offen. Was bleibt, ist vor allem der Eindruck eines früheren US-Präsidenten und Friedensnobelpreisträgers, der den Kurs der Kanzlerin in der Flüchtlingspolitik unterstützt – auch den harten Teil der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber, über die das Kirchentagspublikum an anderer Stelle hart mit Verantwortlichen stritt.
Solche Debatten waren es, die den Kirchentag besonders prägten. Die Polarisierung der Gesellschaft ging auch an ihm nicht vorüber. „Protestantische Streitkultur“ hatte Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au versprochen. Unter dem biblischen Leitwort „Du siehst mich“ waren dabei Andersdenkende ausdrücklich willkommen. Der Berliner Bischof Markus Dröge erntete viel Lob für seine argumentative Sezierung von AfD-Positionen. Für die Veranstaltung, bei der Dröge mit der Vorsitzenden von „Christen in der AfD“, Anette Schultner, diskutierte, hatten die Organisatoren im Vorfeld viel Kritik einstecken müssen.
Auch bei anderen Podien wurde hart gerungen. Eine gemeinsame Predigt von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und Militärbischof Sigurd Rink wurde von Friedensaktivisten gestört. Bei einer Debatte über Rüstungsexporte mit Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) wurden Transparente entrollt. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) wurde ausgebuht – von einigen aber auch beklatscht – für seine Haltung zum Familiennachzug von Flüchtlingen. So viel Protest aus dem Publikum hat es beim Kirchentag lange nicht gegeben.

Gegen das Verharren in „Echokammern“

Das Ziel, ein Gesprächsforum für unterschiedliche Weltanschauungen, Religionen und politische Meinungen zu sein, sei aufgegangen, bilanzierte Präsidentin Aus der Au. Mit seiner Dialogeinladung an Andersdenkende hat der Kirchentag ein Zeichen gegen das Verharren in den berüchtigten Echokammern im Netz gesetzt. Frei nach Luther hat er damit veranschaulicht, was das Ringen mit dem Gewissen, die „Freiheit eines Christenmenschen“, bedeutet, und ist damit vielleicht der bislang protestantischste Beitrag zum Reformationsjubiläum, bei dem bislang vor allem die ökumenische Versöhnung im Vordergrund stand.
Die Diskussionsbereitschaft kommt auch bei der Politik an. Allen voran versicherten SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den Kirchen, dass ihr Beitrag in Diskussionen gewollt ist. Sie sollten sich lieber einmal zu viel einmischen als sich zurückzuhalten, sagte Merkel.
Kirchentag trägt zum gesellschaftlichen Ausgleich bei, kann man nach dem Event bilanzieren. Die Teilnehmer hätten ihre Fähigkeit bewiesen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, sagte die Generalsekretärin des Kirchentages, Ellen Ueberschär. Das macht den Kirchentag am Ende mehr aus als Superlative. Glaube verleihe vor allem auch ein bisschen Demut, sagte Merkel bei der Diskussion mit Obama vor 70 000 Menschen am Brandenburger Tor.