Ein älterer Mann mit grauem Bart und Brille stellt sich zwanzig Zehntklässlern vor: „Mein Name ist Günter Philipps. Ich bin Alkoholiker. Die erste Hälfte meines Lebens habe ich getrunken, die zweite Hälfte bin ich nüchtern geworden. Seither versuche ich, mein Leben in den Griff zu kriegen.“
Das erste Mal war Günter Philipps mit sechzehn Jahren betrunken. Das kann sich sein jugendliches Publikum gut vorstellen. In der Klasse sitzen einige, die diese Erfahrung schon deutlich früher gemacht haben. Ein paar Jahre später brauchte Günter Philipps täglich eine Flasche Brandy. „Am Wochenende war ich dann nur noch betrunken, eigentlich richtig besoffen, hatte keine Freunde mehr, war immer zu Hause.“
Ziel solcher Projekttage ist es, bei den Schülerinnen und Schülern eine informierte und kritische Haltung gegenüber Alkohol und Drogen zu stärken. Das findet die fünfzehnjährige Marina gut. Sie freut sich, dass der Unterrichtsinhalt mal nicht anhand von Lehrbüchern vermittelt wird: „Günter hat uns erzählt, dass er früher sehr gestottert hat. Mit dem Alkohol konnte er das ausgleichen. Das konnte ich gut nachvollziehen. So habe ich besser verstanden, wie eine Alkoholabhängigkeit entsteht.“
Günter Philipps ist nicht allein in die Klasse gekommen. Neben ihm sitzt Mark Mertens, 37 Jahre alt und politox. „Das bedeutet, dass ich mehrfach abhängig bin“, erklärt der Mann mit Stoppelhaarschnitt. „Eigentlich habe ich alles mal konsumiert. Mit elf habe ich angefangen zu rauchen, dann recht bald Alkohol. Mit zwölf habe ich exzessiv getrunken, dazu kam Kokain. Hinterher hatte ich so einen massiven Konsum, dass ich am Tag zwanzig 20 Gramm Shit brauchte und fünf Gramm Kokain.“
Die Klasse hört aufmerksam zu. Marks Geschichte hat einen spannenden Gruselfaktor und macht sehr deutlich, was Sucht anrichten kann. „Als ich siebzehn war, haben es meine Eltern nicht mehr ausgehalten. Ich bin zu Hause raus geflogen. Sie hatten Jahre lang zugeguckt, wie ich mich runter gewirtschaftet habe. Dann ging es einfach nicht mehr.“
Authentische Erfahrungen bringen mehr als Theorie
In Deutschland hat sich die Zahl der Jugendlichen, die wegen Alkoholmissbrauchs ins Krankenhaus kommen, im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre mehr als verdoppelt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts liegt das durchschnittliche Alter des Erstkonsums heute im vierzehnten Lebensjahr. Die Behandlung des Themas in der Schule soll dazu beitragen, Kinder zu selbstbestimmten, jungen Menschen zu erziehen, die sich der Risiken von Alkohol- und Drogenkonsum bewusst sind. Sie sollen reflektiert mit Problemen und Konflikten umgehen können. Diese Hoffnung teilt auch Kristina Roth, Seelsorgerin an der Psychiatrischen Fachklinik Gilead in Bethel (Bielefeld). Schicksale wie die von Günter und Mark kennt sie aus ihrem Arbeitsalltag gut: „Wenn jemand seine Lebenserfahrungen authentisch erzählen kann, kommt das bei Jugendlichen ganz anders an, als wenn man ihnen ein Fachbuch oder eine Broschüre in die Hand drückt.“
Besonders spannend für die Schüler sind Anekdoten aus dem Alltag eines Süchtigen. Da kann Mark einiges bieten: „Damals hatte ich einen Bekannten, der bei mir um die Ecke wohnte. Wir haben oft getauscht. Einmal ist er abends bei mir gewesen, um Tabletten vorbei zu bringen. Ich gab ihm ein paar Gramm Heroin. Dann war er weg. Drei Tage später stand der Krankenwagen vor seiner Tür, Polizei und alles. Überdosis. Er hatte eine Flasche Whiskey getrunken, Tabletten genommen und das Heroin noch oben drauf. Herzstillstand. So habe ich schon einige Leute verloren. Das gehört leider zum Leben mit der Sucht dazu.“
Der fünfzehnjährige Luis ist schockiert. „Ich hatte mir nicht klar gemacht, wie schnell so was passieren kann. Da fragt man sich natürlich, wie weit man selbst davon weg ist. Könnte das auch mir passieren?“
Information muss sein. Jugendliche sollen einschätzen können, welche Konsequenzen der Konsum von Rauschmitteln hat und wie Abhängigkeit entsteht. Aber sie sollen auch erkennen, dass Sucht überwunden werden kann. Günter Philipps und Mark Mertens haben es geschafft. „Ich bin jetzt auf einem guten Weg“, freut sich Mark. „Ich komme gerne in Schulen, um Suchtprävention zu machen. Wenn mir damals einer live erzählt hätte, was alles passieren kann, dann hätte ich vielleicht ein paar andere Entscheidungen getroffen.“
Die Seelsorgerin Kristina Roth meint, es sei besonders wichtig, den Einzelnen nicht aus der Verantwortung zu nehmen. Trotz scheinbar guter Gründe und trotz traumatischer Erfahrungen in der Kindheit hat man immer noch die Wahl, zur Flasche zu greifen oder eben nicht. „Es bleibt eine freie Entscheidung“, sagt sie. „Über den Konsum kann ich einen vermeintlichen Ausweg aus meinen Problemen suchen, oder ich gehe einen anderen Weg. Diese Wahlfreiheit eröffnet ein spannendes Feld für Unterstützung und die Suche nach Verständnis. Wie kann man Hilfestellung bieten und Alternativen aufzeigen?“