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Gedanken zu Weihnachten: Freude ist nicht planbar

Das Gefühl der Freude verlieren wir im Alltag oft aus den Augen. An Weihnachten merken wir, wie sehr wir uns danach sehnen. Ein weihnachtlicher Gastbeitrag zu unserem liebsten Grundgefühl.

Freude – ein warmes Gefühl, auch in der kalten Jahreszeit.
Freude – ein warmes Gefühl, auch in der kalten Jahreszeit.Imago / Panthermedia

„Jauchzet, frohlocket!“ – Wenn ich diese Aufforderung lese, dann hat sie einen unverwechselbaren Klang in meinem inneren Ohr. Ein Raum öffnet sich feierlich in mir, in dem Pauken erklingen und Holzbläser und mit ihnen ein ganzes Orchester und ein großer schwungvoller Chor. Bach hat mit diesem Beginn seines berühmtesten Oratoriums der Weihnachtsfreude einen Klang gegeben.

Am Heiligen Abend kommen ­viele Menschen in die Gottesdienste, weil sie mit dem Weihnachtsfest bestimmte Klänge verbinden. Die Kirchen werden an diesem Tag zu Orten, an denen man von einer ­tiefen Freude hören kann, in ­uralten Liedern und Texten. Von Sehnsüchten ist die Rede, die viele auch heute kennen: Sehnsucht nach Licht und Befreiung, nach Frieden und Hoffnung. Und es geht um die Erfüllung dieser Sehnsucht.

Christkind als Geschenk für die Welt

Am berührendsten nach wie vor sind die Geschichten über die Geburt des Kindes, das nicht so ganz hineinpasst in seine Zeit und Welt. Und dann landen doch so unterschiedliche und überraschende Gäste an dem improvisierten ­Bettchen. Sie alle betrachten dieses Baby als Geschenk, finden in ihm Erfüllung und wollen sich mit­freuen, dass es da ist.

Weihnachtsfreude hat viel mit Wünschen und Erwartungen zu tun. Die können sich entweder ­erfüllen – auf ungeahnte Weise – oder verhallen, weil das Leben ganz anderes bereithält. Manchmal weiß ich vorher genau, was ich dieses Weihnachten brauche, um mich freuen zu können – und dann bin ich in dem zuvor ausgemalten ­Moment gar nicht bereit oder doch nicht so eins mit mir, wie ich erwartet hatte, und die Freude stellt sich einfach nicht ein. Dann wieder taucht bei anderer Gelegenheit eine Fröhlichkeit auf, mit der ich nicht gerechnet hatte und die mich lauter oder leiser sein lässt, als ich es sonst von mir ­kenne.

Freude über den Sturz des Assad-Regimes

Vor einigen Tagen haben sich Menschen in aller Welt unbändig gefreut über den überraschenden Sturz eines Despoten, der gut 2500 Kilometer östlich von hier herrschte. Ihre Freude war überschwänglich, laut, tränenreich, ein wilder Tanz der Befreiung. Anderen aber blieb diese ausgelassene Stimmung fremd.

Um mitzuschwingen in dieser Freude, braucht es wohl eine Ahnung davon, wie die jetzt Feiernden die vergangenen Jahrzehnte erlebt haben: geprägt von Druck und Angst, vermischt mit Ohnmacht und Trauer. Muss man Ähnliches ­erlebt haben, um die Freude nachvollziehen zu können?

Sicher weiß niemand, wie es in Syrien weitergehen, was aus den Träumen und Hoffnungen der ­Feiernden werden wird. Doch der Moment der Freude ist Gegenwart. Jetzt. Die Geschichte hält für einen Augenblick an.

Der Freude muss man Raum geben

Zu Weihnachten wird die Geschichte von Jesus auch noch nicht bis zum Ende weitererzählt – nur in manchen Liedern klingt es leise an. Bevor alle überlegen, wie die ­Geschichte wohl weitergeht, braucht die Freude erst einmal Raum, gerade bei denen, die sich lange nicht gefreut haben. Wenn die Freude noch eine Zeitlang ­einfach für sich stehen darf, vielleicht setzt sie dann noch stärker ihre Kraft frei – ohne, dass ihr Sinn und ihre Verlässlichkeit gleich in Frage gestellt werden, ohne dass jemand anfängt, etwa die Freude der befreit aufatmenden Syrerinnen und Syrer mit der eigenen Agenda zu verstricken und daraus Flug­tickets in eine noch völlig ungewisse Zukunft zu basteln.

Einander Freude gönnen, ist wohl eines der reinsten Zeichen von Mitmenschlichkeit. Das Natürlichste, wenn ein Mensch neben mir sich wirklich freut, ist, dass ich mich davon anstecken lasse. Mitschwingen und mitfreuen geht auch, ohne dass die Gründe zu ­meinen eigenen werden. In der geteilten Freude lässt sich eine starke Verbundenheit und Gemeinschaft erleben. In einem Moment, in dem ich mich mit anderen verbunden fühle, kann ich tiefes Glück em­pfinden.

Ersehnte Weihnachtsfreude

Wenn ich am Heiligabend in der Kirche bin, passiert das allerspätestens, wenn das Lied „O du fröh­liche“ angestimmt wird. Dann ­finden meine Augen wie von selbst die anderen strahlenden Gesichter und sie leuchten einander ent­gegen. Wie groß die Freude ist, kann sich darin äußern, wie laut ich mit einstimme.

Wie sehr die Weihnachtsfreude ersehnt wurde, merke ich daran, wie schnell mir die Stimme wegbricht, sodass ich dann doch für ­einen Moment ganz leise werde. Mit den Freudentränen läuft dann all das über, was mich aufatmen lässt und was schwer war, der ­kleine und der große Kummer, der überstandene und der andauernde, der persönliche und der über die Welt. In diesem dichten Augenblick spüre ich Gottes Nähe zu uns ­Menschen ganz deutlich – und sie fühlt sich an wie ein Geschenk.

Almut Bellmann ist Superintendentin im Berliner Kirchenkreis Nord-Ost.