Predigttext
8 Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel. 9 Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter. 10 Mein Freund antwortet und spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! 11 Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. 12 Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande. 13 Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!
Kennen Sie diese Filme, bei denen man eigentlich von den ersten Minuten an weiß, wer am Ende als Paar grüßen wird? Wer sich über etliche Irrungen und Wirrungen zum Schluss doch noch findet? 90 bis 120 Minuten fiebert und leidet man mit den Liebenden mit, möchte sie zwischendurch auch mal schütteln und ihnen zurufen: „Ja, seht ihr denn nicht, dass ihr füreinander bestimmt seid? Kommt endlich mal in die Pötte!“
So ähnlich geht es mir mit diesem Text aus dem Hohelied. Auf der einen Seite die liebende Frau, die der Ankunft ihres Freundes entgegenfiebert, die seinen verheißungsvollen Worten von Frühlingsgefühlen und blühenden Blumen lauscht. Auf der anderen Seite der Geliebte, der alle Register zieht, um die Angebetete zum Verlassen des Hauses zu überreden. Die Sehnsucht nacheinander ist bei beiden deutlich spürbar, das Happy End zum Greifen nahe. Doch noch ist die letzte Klappe nicht gefallen, die Schlusssequenz noch nicht im Kasten.
Was hat ein Liebeslied mit Gott zu tun?
Warum steht dieser an einen Liebesfilm erinnernde Text eigentlich in der Bibel? Was hat dieses Liebeslied mit Gott zu tun? Der jüdischen Auslegung nach entspricht die Beziehung zwischen dem Geliebten und seiner Freundin der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk. Die christliche Auslegung hat später einen ähnlichen Weg beschritten: Der Geliebte wurde zu Christus, die Freundin zur Kirche und zur Seele des gläubigen Menschen.
Lassen wir uns an dieser Stelle einmal auf diese Lesart ein. Denn unsere Beziehung zu Gott ist wie die zweier Liebender auch immer von Intimität und Nähe und Sehnsucht geprägt. Gott als Liebhaber der Menschen umwirbt uns, bittet uns um unser Vertrauen, verspricht uns, dass das Unsichtbare stärker ist als das Sichtbare. Er sieht, dass wir mit unseren Zweifeln und Nöten noch eingesperrt sind hinter Gittern. Gitter, geschmiedet aus Angst und Misstrauen, die uns von ihm und vom vollen Leben trennen. Gitter, die er für uns aufbrechen will.
Denn Gott kennt unsere Sehnsucht nach Liebe und Vertrauen, unsere Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit. Gott weiß, dass wir uns in dieser herausfordernden Zeit nach Stabilität und Geborgenheit sehnen. Die Pandemie ist längst noch nicht besiegt. Der Krieg in der Ukraine ängstigt uns und wir spüren seine Folgen. Manche wissen nicht, wie sie die gestiegenen Energie- und Lebenshaltungskosten stemmen können. Die Folgen des Klimawandels kommen langsam auch bei uns spürbar an. Unsere Sehnsucht nach Halt, nach Lebenssinn steigt mit den uns bedrohenden Krisen.
Diese Sehnsucht nach einem Leben, das Zukunft für uns bereithält, will Gott stillen. Wie ein leidenschaftlicher Liebhaber wirbt er um uns.
Auch Gott kennt die Sehnsucht
Denn das Wunderbare ist, dass auch Gott die Sehnsucht kennt. Nur gilt seine Sehnsucht nicht sich selbst, sondern uns. Der Kirchenvater Augustinus hat es einmal so formuliert: „Die Sehnsucht Gottes ist der Mensch.“ Nicht nur wir sehnen uns nach einem Leben, das uns erfüllt, nach einem Gegenüber, bei dem wir uns gut aufgehoben wissen. Auch Gott wünscht sich ein Gegenüber, das ihm nahe sein will, das das Angebot von Geborgenheit und Halt anzunehmen bereit ist. Obwohl wir uns gerade in den dunklen Zeiten wünschen, dass Gott für uns sichtbarer, greifbarer wäre, ist er ja längst zu unserem vergitterten Haus gekommen.
Im Advent bereiten wir uns auf die Geburt Jesu Christi vor. In ihm ist Gott Mensch geworden und hat sich auf Augenhöhe mit uns begeben. Unsere Sehnsucht nach etwas Neuem, nach Unverbrauchtem, nach neuen Chancen und Änderungen, die Sehnsucht nach einem Leben, das nicht die Spuren des Vergangenen an sich trägt, findet ihre Erfüllung in der Geburt des Sohnes Gottes.